Ein Rotarmist in Deutschland
Wladimir
Natanowitsch Gelfand wurde am 1.
März 1923 in Nowo-Archangelsk, einem kleinen Ort im Gebiet
Kirowograd in der Ostukraine, geboren. Die jüdische Familie
lebte sehr bescheiden. Wladimirs Mutter Nadeschda Wladimirowna
Gorodynskaja (1902–1982) kam aus ärmlichen
Verhältnissen, sie war eines von acht Kindern. Als junge Frau
verdiente sie mit Privatunterricht etwas Geld. Der Vater Natan
Solomonowitsch Gelfand (1894–1974) hatte zunächst in
einer Zementfabrik in Dneprodserschinsk gearbeitet und nach der
Revolution berufsbildende Kurse besucht. Wladimir bezeichnete in
Fragebögen seine soziale Stellung mit Arbeiter und Glaser.
Während der Vater parteilos blieb, gehörte die Mutter
seit 1917, also schon in sehr jungen Jahren, zu den Bolschewiki.
Parteifunktionen übte sie offenbar nicht aus, doch Wladimir
hielt es in einem Lebenslauf für erwähnenswert,
daß sie am Bürgerkrieg teilgenommen hatte. Allem
Anschein nach erlosch ihre Parteimitgliedschaft im Zuge einer
Neuregistrierung in den fünfziger Jahren, denn er nannte die
Mutter in einer Kurzbiographie aus dieser Zeit
„parteilos“.
Wladimirs
Eltern lebten also in einem ganz
typischen Milieu des in den dreißiger Jahren zunehmend
industrialisierten Südens der Sowjetunion: in dem der
proletarisierten jüdischen Minderheit, die Anschluß
an die kommunistische Bewegung gefunden hatte. Letzterem lag eher ein
politisch-weltanschaulicher Konsens zugrunde, weniger eine
politisch-organisatorisch Bindung; zum
„Kaderreservoir“ gehörten Wladimirs Eltern
nicht.
Auf der
Suche nach einträglicher Arbeit
und familiärer Unterstützung gelangte die junge
Familie in die Region um Kislowodsk im Kaukasus. 1926 wohnte sie in
Jessentuki, wo die Eltern des Vaters lebten, kehrte aber schon 1928
wieder ins ukrainische Industriegebiet zurück. Hier arbeitete
der Vater in einem Metallbetrieb als Brigadier und wurde –
den Angaben des Sohnes zufolge – als
„Stoßarbeiter“ ausgezeichnet. Die Mutter
war als Erzieherin in einem Betriebskindergarten beschäftigt,
in dem auch Wladimir betreut wurde. Nach seiner Einschulung im Jahr
1932 übernahm sie eine Stelle in der Personalverwaltung eines
großen Industriebetriebes. 1933 zog die Familie in die
nahegelegene Industriemetropole Dnepropetrowsk.
Die
Eltern trennten sich, als Wladimir noch zur
Schule ging. Der Vater blieb aber mit ihm in Verbindung. Wladimirs
Aufzeichnungen bieten keine hinreichende Erklärung
für die Trennung. Er blickte ungern auf seine Kindheit
zurück. Verhalten deutete er an, daß es oft Streit
gegeben hatte. Seiner Erinnerung nach schenkte die Mutter ihm nur wenig
Zärtlichkeit. Indes, die Briefe der Eltern an den Soldaten
Wladimir Gelfand sprechen eine andere Sprache. Vater wie Mutter
müssen ihren einzigen Sohn abgöttisch geliebt haben,
und auch die Tanten und Onkel mütterlicherseits brachten dem
Jungen viel Zuneigung entgegen. Wie er später, als Student,
von einer früheren Mitschülerin erfuhr, hielten die
Mädchen seiner Altersgruppe den zarten Knaben für ein
Muttersöhnchen.
An
Kleidung und Nahrung konnten die Eltern nichts
Besonderes bieten, doch sie förderten Wladimirs Bildung nach
Kräften. In den oberen Klassen war er ein belesener
Schüler, der sich für Philosophie, Geschichte,
Politik und vor allem für Poesie interessierte. Wladimir
teilte diese geistigen Vorlieben mit vielen. Er war ein typischer
Vertreter der „sowjetischen Oberprima“ der
dreißiger Jahre: überzeugter Komsomolze,
Wandzeitungsredakteur, glühender Agitator und Organisator von
künstlerischen Rezitationswettbewerben. In einer Zeit, da der
Wortkunst eine außerordentliche Bedeutung beim Aufbau der
sozialistischen Gesellschaft und der Entwicklung des „neuen
Menschen“ zugesprochen wurde, meinte auch er, den geistig
anspruchvollen, zugleich politischen „Beruf“ eines
Schriftstellers ergreifen zu müssen.[i]
Daß das Land vom Stalinistischen Terror erschüttert
wurde, registrierte der Schüler Gelfand kaum, denn es
tangierte ihn und seine Familie nicht, und Schule wie Presse schienen
die richtige Erklärung für den Kampf gegen
„Verräter“ und
„Klassenfeinde“ zu liefern.
Wladimir
war von seinem dichterischen Talent
überzeugt, er war zielstrebig und ausdauernd und hatte Freude
am Formulieren. Warum er 1940 oder 1941 von der Mittelschule in die
Abiturklasse der Dnepropetrowsker „Arbeiterfakultät
für Industrie“ überwechselte, ist nicht
ganz klar. An der neuen Ausbildungsstätte mit
zusätzlicher Berufsausbildung absolvierte er „drei
Kurse“.
Der
Überfall Deutschlands auf die
Sowjetunion verhinderte Wladimirs Schulabschluß. Als im
August 1941 Betriebe und öffentliche Einrichtungen der
Heimatstadt evakuiert wurden, schlugen seine Mutter und er sich nach
Jessentuki durch. Wladimir fand Unterkunft bei einer Tante, die Mutter
konnte nicht in seiner Nähe bleiben. Auch der Vater
verließ die Ukraine. Er zog zu einem Bruder nach Derbent,
einer Kleinstadt am westlichen Ufer des Kaspischen Meeres. Dort
verbrachte er, eingespannt in die harte Produktionsmaschinerie des
sowjetischen Hinterlandes, die ersten Kriegsjahre, bis er
schließlich für die
„Arbeitsarmee“ in Schachty im Donbaß
dienstverpflichtet wurde.
Wladimir
Gelfand wurde in Jessentuki und dessen
Umgebung zunächst bei einfachen Reparaturarbeiten eingesetzt.
Im April 1942 meldete er sich an die Front, am 6. Mai 1942 wurde er
einberufen. Die Grundausbildung erhielt der Neunzehnjährige in
einer kleinen Artillerie-Einheit in der Nähe von Majkop im
westlichen Kaukasus. Wladimir wurde der Rang eines Sergeanten
zuerkannt, er übernahm das Kommando über eine
Granatwerferbesatzung. Als die Ölfelder bei Majkop im August
1942 direktes Ziel deutscher Angriffe wurden und die Wehrmacht in den
Kaukasus vordrang, war Wladimir bereits nicht mehr dort. Er
kämpfte seit Juni an der südlichen Flanke der
Charkower Front, die den mächtigen Attacken des Gegners
allerdings nicht gewachsen war.
Gelfand
erlebte einen chaotischen Rückzug
im Raum Rostow. Mitte Juli 1942 wurde seine Einheit umzingelt und
teilweise aufgerieben. Mit einer kleinen Gruppe gelang es Wladimir, aus
dem Kessel auszubrechen und erneut Anschluß an die Truppe zu
finden. Anfang August wies man ihn einer Eliteeinheit zu, der 15.
Garde-Schützendivision, die nahe Stalingrad kämpfte.
In seinem Zug wurde Garde-Sergeant Gelfand zum Stellvertreter des
Zugführers für politische Arbeit ernannt. Er stellte
den Antrag, in die Kommunistische Partei aufgenommen zu werden, und
erhielt ein Kandidaten-Parteibuch. „Ich will als Kommunist in
den Kampf ziehen“, hatte er sich schon im Mai 1942
vorgenommen.
Die
Rote Armee führte opferreiche
Verteidigungs- und Rückzugskämpfe. Zum
Jahresende konzentrierten sich die Kampfhandlungen bei Stalingrad. Eine
Verwundung rettete Wladimir vor dem schlimmsten Gemetzel, er kam im
Dezember 1942 in ein Lazarett in der Nähe von Saratow,
östlich der Wolga. Seine frühere Einheit
kämpfte bald danach im nördlichen Kaukasus und
befreite seine „zweite Heimat“. Im Januar 1943 nahm
die Rote Armee Jessentuki wieder ein.
Die
Verletzung an der Hand heilte schwer. Erst im
Februar 1943 wurde Wladimir gesundgeschrieben und in ein
Reserve-Schützen-Regiment bei Rostow eingewiesen. Sein Weg
dorthin führte durch das zerstörte Stalingrad. Vom
Schicksal seiner Mutter wußte er lange nichts. Im Sommer 1943
erreichte ihn die Nachricht, daß sie in Mittelasien lebte,
und Wladimir nahm den Briefkontakt zu ihr wieder auf. Er erfuhr,
daß fast alle Verwandten väterlicherseits im
besetzten Jessentuki bei Judenvernichtungsaktionen umgekommen waren.
Überlebt hatten nur der Vater und dessen Bruder im nicht
besetzten Derbent.
Eine
dreimonatige Schulung in Offizierskursen
beendete Wladimir als Unterleutnant. Ende August 1943 wurde er in die
248. Schützendivision versetzt, wo er nach kurzem Aufenthalt
in der Reserve das Kommando über einen Granatwerferzug
übernahm. So kam er nach acht Monaten Hinterland wieder ins
unmittelbare Kampfgeschehen.
Die
248. Schützendivision hatte bereits
eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Zweimal völlig
aufgerieben und wieder neu formiert, erhielt sie mit der dritten
Aufstellung 1942 gut ausgebildete Kräfte aus verschiedenen
Infanterie-Unteroffiziersschulen und Frontlazaretten. Die
hochmotivierte Truppe machte sich innerhalb der Verbände der
Südfront sehr verdient. Gelfand stieß zu ihr, als
die Südukraine befreit wurde. Die Rote Armee schnitt die noch
von den Deutschen besetzte Krim ab und attackierte die restlichen
deutschen Verteidigungslinien. Gelfands Granatwerferzug wurde
südlich von Melitopol eingesetzt. – 150 Kilometer
entfernt lag zur selben Zeit auf einem Sonnenblumenfeld in einem
„sehr engen und feuchten Loch in der schwarzen russischen
Erde“ ein Soldat namens Heinrich Böll und schrieb
seiner Mutter einen Brief „aus dem traurigen Entsetzen des
Krieges“.[ii]
Als die
248. Schützendivision im Herbst
1943 in eine Garde-Armee der 3. Ukrainischen Front eingegliedert wurde,
erwartete Wladimir voller Stolz, daß sie Garde-Division
würde. Die Anerkennung als Elitetruppe bedeutete neben hohem
Ansehen auch eine vergleichsweise strenge Auswahl
des Personals bei Auffüllungen der Mannschaften
und Offiziersreihen, bedeutete gute Ausbildung, anständige
Ausstattung und vorbildliche Disziplin. Dem jungen Unterleutnant war
die Aussicht auf gebildetere Kameraden und auf einen etwas
zivilisierteren Umgang sehr willkommen. Allein, die Hoffnung
erfüllte sich nicht, die Einheit kämpfte als
reguläre Division weiter. Ende Januar 1944 erhielt Wladimir
Gelfand den Rang eines Leutnants. Seit November 1943 war er
Vollmitglied der KPdSU(B).
Während
all der Monate an der Front, im
Lazarett und in der Ausbildung führte er sein Tagebuch weiter.
In den Ruhepausen zwischen den Attacken und den Bombardements des
Gegners, auf Märschen, bei Befestigungsarbeiten und
Angriffsvorbereitungen suchte er geistige Beschäftigung. In
Ortschaften, die seine Einheit passierte, durchstöberte er
Bibliotheken und fragte in Wohnungen nach Büchern. Er schrieb
Gedichte und bot sie diversen Frontzeitungen an. Er studierte, soweit
das möglich war, zentrale Zeitungen, er fertigte Wandzeitungen
an und verfaßte Front-Flugblätter. Wladimir trat in
Komsomol- und Parteiversammlungen auf, referierte im Parteilehrjahr,
debattierte mit anderen über Stalin-Reden und Direktiven des
Oberkommandos. Er wollte sich in politischen Funktionen
nützlich machen. Kritisch hielt er in seinem Tagebuch fest,
wie trocken und langweilig viele Front-Lektoren in den Versammlungen
und Bildungsveranstaltungen referierten. In seinem Wirken als
stellvertretender Komsomolsekretär und Mitglied des Komsomol-,
später auch des Parteibüros im Bataillon,
schließlich als Parteigruppenorganisator einer Kompanie
erfuhr der Zwanzigjährige eine starke innere Befriedigung.
Anfang
1944 war Gelfands Einheit in
Kämpfe am südlichen Dnepr verwickelt. Wladimir
durchlebte sie abwechselnd an der Kampflinie und in der Reserve.
Vielleicht waren Gesundheitsgründe ausschlaggebend (die alte
Verwundung an der Hand machte ihm zu schaffen und mußte
behandelt werden), vielleicht blieb er aus technischen Gründen
mehrmals zurück.[iii]
In die vordere Linie zurückgekehrt, übernahm er
kurzzeitig einen Schützenzug. Anfang Mai 1944
überschritt seine Einheit den Dnestr nahe Grigoriopol. Eine
neue Offensive am Südabschnitt der Front führte
Wladimir im August 1944 nach Bessarabien. Immer häufiger waren
Kolonnen von Kriegsgefangenen zu beobachten, von
„verhaßten Fritzen“ und
Verrätern aus den eigenen Reihen, Kollaborateuren. In seinem
Tagebuch schilderte er Haßausbrüche der Rotarmisten
den Gefangenen gegenüber. Von Tiraspol aus ging es in
nordwestlicher Richtung weiter.
Nach
zweieinhalb Jahren Soldatsein, von denen er
weniger als die Hälfte im aktiven Kampfeinsatz verbracht
hatte, ließ Wladimir Gelfands Pflichtbewußtsein
merklich nach. Er hatte, wie die meisten, kein Verlangen nach der
vordersten Linie. Da er häufig ohne Verantwortung für
ein Kampfkommando war, oblagen ihm Aufgaben der allgemeinen Sicherheit,
der Verbindung und des Nachschubs. Bei Verlegungen gelang es ihm, wie
vielen anderen „Etappisten“, außerhalb
des Trosses bequemere Wege, Transportmittel und Zwischenquartiere zu
finden. Er pendelte zwischen Einheit, Stab und
Versorgungsstützpunkt, wich Patrouillen aus und sah sich um.
Im Herbst 1944 befand sich seine Division im Raum östlich von
Warschau. Sein Tagebuch füllte sich mit Notizen über
Begegnungen mit der polnischen Zivilbevölkerung. Ende November
1944 war er bereits über zwei Monate außerhalb der
Kampfhandlungen.
Seine
Bummeleien erregten bei Vorgesetzten
wiederholt Mißfallen. Sogar dem Divisionskommandeur Nikolai
Sacharowitsch Galai fiel er auf. Als Wladimir auch noch dessen
Frontgeliebte anzuhimmeln begann und sie – auf
freundschaftlichen Rat nichts gebend – in Briefen und
Gedichten bedrängte, zog er Galais persönlichen Grimm
auf sich. Im Dezember 1944 mußte er dem
Militärstaatsanwalt sein unerlaubtes Entfernen von der Truppe
erklären. Das alles ging zu seinem Glück glimpflich
aus, und noch vor Jahresende kehrte Wladimir Gelfand zu den
Granatwerfern der 248. Division zurück.
Anfang
1945 bereitete sich die Rote Armee auf zwei
gewaltige Angriffsoperationen vor, die Weichsel-Oder-Offensive und die
Ostpreußen-Offensive. Einheiten mit insgesamt mehr als drei
Millionen sowjetischer Soldaten wurden zu diesem Zweck neu formiert,
ausgerüstet und in Stellung gebracht. Den erfolgreichen
Offensiven sollte die Schlacht um Berlin folgen. Der Roten Armee stand
ein noch immer mächtiger Feind entgegen, der an den Grenzen
des eigenen Siedlungsraumes zu hartnäckigem Widerstand bereit
war. Am 12. und 13. Januar begannen die sowjetischen Angriffe. Sie
führten zu einem dynamischen Kampfgeschehen.
Wladimir
Gelfand wurde Anfang Januar 1945 in das
1052. Schützenregiment der 301. Schützendivision
eingewiesen, das in Vorbereitung der Offensive Übungen
absolvierte. Die 301. Division gehörte seit Oktober 1944 zur
5. Stoßarmee von Generaloberst Nikolai Erastowitsch Bersarin
innerhalb der 1. Belorussischen Front unter Armeegeneral Georgi
Konstantinowitsch Shukow. Wladimir Gelfand bekam im 3.
Schützenbataillon wieder das Kommando über einen
Granatwerferzug, und diesmal ging es wirklich an die vorderste
Kampflinie. Vielleicht war es für ihn eine Art Strafversetzung
zum Zweck der Bewährung, denn Gelfands alte Division
(ebenfalls in der 5. Stoßarmee) besetzte den Aufmarschraum
hinter der 301.
Am
Morgen des 14. Januar 1945 kam südlich
von Warschau am Fluß Pilica nach 25minütiger
Artillerievorbereitung der Befehl zum Angriff in nordwestlicher
Richtung. Das 1052. Schützenregiment stieß auf
deutsche Infanterie und Panzer, dennoch kamen die sowjetischen Truppen
in diesem Abschnitt nach einigen Tagen Stellungskampf unerwartet
schnell voran. Binnen zwei Wochen erreichten sie die 1939 von der
Wehrmacht überrollte Reichsgrenze.
Gelfands
Tagebucheinträge zeugen von
Erschöpfung, aber auch von Stolz und Siegeserwartung. Hatte er
Ende 1944 bereits bekannt, daß es für ihn und andere
erstrebenswert sei, bei der Einnahme Berlins dabei zu sein, so
rückte dieses Ziel nun rasch näher. Anfang Februar
1945 besetzte seine Einheit von Norden kommend bei Neuendorf einen
Brückenkopf am westlichen Ufer der Oder. In den Erinnerungen
des Divisionskommandeurs Oberst Wladimir Semjonowitsch Antonow
heißt es, das 3. Bataillon im 1052. Schützenregiment
hatte besonders harte Gegenangriffe abzuwehren.[iv]
Die Verluste waren um vieles höher als in den Wochen des
Kampfes zwischen Pilica und Oder.
Noch
mehr als die körperliche Belastung
trübten Reibereien mit anderen Offizieren Gelfands
Siegerstimmung. Er stieß in dem eingespielten
Offiziers-Ensemble auf vierschrötige Männer, die
seinem Naturell so ganz und gar nicht entsprachen. Auch mit einigen der
ihm unterstellten Soldaten am Granatwerfer war er unzufrieden. Er
spürte Mißachtung, sah sich Protzerei und derben
Späßen ausgesetzt. Gelfand meinte, den Anfeindungen
mit einem antiquierten Ehrenkodex begegnen zu können, und
erkannte zu spät, wie lächerlich er sich machte.
Schwierigkeiten, die der Schöngeist Gelfand mit Frontkameraden
auch zuvor schon hatte, wurden jetzt dadurch verschärft,
daß der siegreiche Vormarsch der Truppe auch kriminelle
Energie freisetzte. Immer öfter wurde er zur Zielscheibe von
Anfeindungen bis hin zu Handgreiflichkeiten. Schließlich
unternahm er mehrere Versuche, das despektierliche Benehmen einzelner
Offiziere und den allgemein rohen Umgangston in dieser Truppe als
Disziplinverstöße, die die Kampfmoral
beeinträchtigten, ahnden zu lassen. Er reichte Beschwerde ein.
Für
Gelfand war die Situation auch
deshalb so deprimierend, weil er bei Auszeichnungen für die
erfolgreichen Vorstöße an der Oder
übergangen wurde. Im Tagebuch finden sich schon für
die Jahre zuvor zahlreiche Hinweise auf Niedertracht und Arroganz von
Seiten einiger Vorgesetzter ihm persönlich und anderen
gegenüber. Wladimir hatte wiederholt empfunden, daß
er als Jude nicht gemocht wurde. Dünkel und Feindseligkeit
führte er aber nicht nur auf „Judophobie“,
wie er sich ausdrückte, zurück, sondern auch auf
Rohheit, Dummheit, Ehrlosigkeit und Intellektuellenfeindlichkeit bis
hinein in die Offiziersreihen. Nach den Erlebnissen vom Februar 1945
ließ ihn der Gedanke, absichtlich zurückgesetzt zu
werden, fast schon verzweifeln. Er sah in seinen Widersachern
„Raufbolde und anderes anarchistisches Gesocks“
(Notiz vom 9. August 1945), die in der Abschlußphase des
Krieges bei ausschweifenden Gelagen an Einfluß gewannen und
sich mit den heimlichen Machthabern, den Bürokraten in den
Stäben, über die Ordensverleihungen
verständigten.
Es ist
schwer zu sagen, ob Gelfand die
Streitereien heil überstanden hätte. Nicht nur einmal
wurde ihm von eigenen Leuten angedroht: Dich erschieß ich bei
der nächsten Gelegenheit! So gesehen war es ein
Glück, daß er Ende März 1945 in den Stab
der 301. Division gerufen wurde, um das „Tagebuch der
Kampfhandlungen“ [Shurnal bojewych dejstwii] zu
führen.
Traditionsgemäß
wurden in allen
größeren Einheiten bedeutsame Schlachten sofort
„protokollarisch“ festgehalten. Kurzmeldungen von
den Frontabschnitten und diversen Stellungen wurden zusammengetragen,
ausgewertet und in einer Art Dokumentation zusammengefaßt. Im
Vorfeld der Berliner Operation hatte man sich in Antonows Divisionsstab
dafür einen neuen Schreiber ausgesucht – Wladimir
Gelfand. So saß er also, während die 301.
Schützendivision Mitte April bei Küstrin zum Angriff
auf Berlin überging, zuerst in Küstrin, dann westlich
der Stadt und schließlich in einem östlichen Vorort
von Berlin und verfaßte das offizielle Divisionstagebuch.
Die
eingehenden Meldungen waren dürftig
und „trocken“. Wladimir musste sich, wie er zugab,
„einiges dazudenken“. Eigentlich lag ihm die
Arbeit, und er bekam einen guten Überblick über die
Ereignisse. Aber die unter anderen Umständen begehrte
Auftrags-Schreiberei befriedigte ihn nicht, denn die letzte Schlacht in
Berlin als „richtiger Etappenkrieger“ zu erleben,
war ihm ganz und gar nicht recht. „Es zieht mich dorthin, wo
es donnert, ächzt und lodert“, vertraute er dem
Tagebuch am 14. April 1945 an. Zum Glück bot ihm sein Auftrag
Freiraum für Erkundungen. Er suchte selbständig
Stellungen auf, durchlief gerade erst eroberte Abschnitte. Ende April
betrat er endlich Berlin. Am 2. Mai 1945 kapitulierte die deutsche
Hauptstadt.
Für
Tagebuchnotizen und Briefe fehlte
Gelfand plötzlich die Zeit. Und so erklärt sich wohl,
daß die von sowjetischen Kriegsveteranen so intensiv
erinnerten Siegesfeiern in seinen Aufzeichnungen fehlen. Die
historische Tragweite des Augenblicks hielt der politisch geschulte
Offizier erst später fest. – Noch im April erfuhr
er, daß „seine“ Granatwerfer-Kameraden,
die hartgesottenen Kerle seines Bataillons, in den letzten
Kämpfen starke Verluste hatten hinnehmen müssen. Ihm
war es vergönnt, zu überleben. Und wie viele andere
Soldaten der 5. Stoßarmee empfand er es als höchst
angemessen, daß „sein“ Armeekommandeur
Bersarin am 24. April 1945 zum Stadtkommandanten von Berlin und Chef
der Berliner Garnison ernannt wurde.
Die
ersten Friedenswochen erlebte Gelfand als
Stabsoffizier in diversen Einsätzen in und bei Berlin:
Truppenbewegungen, Neuformierungen, Entlassungen, technische
Runderneuerung sowie politische und allgemeine Grundausbildung der
Mannschaften bestimmten den Alltag der noch nicht endgültig
stationierten Schützendivision, einen Alltag, der den
Offizieren immer wieder auch eigenständige Ausflüge
erlaubte. Bis Juni 1945 hielt die „unbeständige
Lage“ (Notiz vom 3. Juni 1945) für Gelfand an, dann
sollte er wieder in die Truppe eingegliedert werden. Doch er
übernahm den ihm zugewiesenen Zug nur widerstrebend. Gelfand
wollte nach Hause, „völlige Apathie,
Gleichgültigkeit“ erfaßten ihn (Notiz vom
12. Juni 1945). Den ganzen Sommer über hoffte er auf
Entlassung aus dem Kriegdienst. Jetzt, im Frieden, wurde es ihm noch
deutlicher bewußt, und der Mutter gegenüber bekannte
er freimütig, daß ihm „das
Militärleben [...] überhaupt nicht gefällt
– alles quält und bedrückt mich
hier“ (Brief vom 23. Juni 1945). Da aber die
Entlassungskriterien auf Wladimir Gelfand nicht zutrafen, wurde er
weder von der ersten Demobilisierungswelle entsprechend dem Gesetz vom
23. Juni 1945, noch von der zweiten laut Erlaß vom 25.
September 1945 erfaßt.
Ohne
bestimmte Aufgabe, verbrachte er den Juni in
labilen Unterstellungsverhältnissen. Als eine
wissenschaftliche Bibliothek geplündert werden sollte, hielt
er das für eine „schändliche
Barbarei“ (Notiz vom 16. oder 17. Juni.). Gleichwohl (oder
eben deshalb) landeten neben einigen russischsprachigen Klassikern mit
Stempeln sowjetischer Bibliotheken auch ein, zwei hübsche
deutsche Bildbände in Wladimirs privatem Gepäck.
Anfang Juli 1945 kam er in ein Reserve-Offiziersregiment nahe
Rüdersdorf, wo er sich weiterhin viele Freiheiten nahm. Die
rechtfertigte er weniger mit seinem Offiziersstatus als vielmehr mit
seiner unbändigen Neugier und Lebenslust. Er war
empört, als im August der persönliche Kontakt mit den
Deutschen verboten wurde. Auf eigene Faust unternahm er weiterhin
Fahrten nach Berlin.
Nachdem
Bersarin Mitte Juni 1945 in Berlin bei
einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, wurde die 5.
Stoßarmee aus Berlin herausgeführt. Zugleich
rüsteten die Truppen um. Auch für Gelfand
mußte ein neuer Einsatzort gefunden werden, und er hoffte auf
interessante Einsatz- und Qualifizierungsmöglichkeiten. So
bemühte er sich um eine Stelle als Politoffizier und malte
sich aus, nach Sprachkursen in der Aufklärung eingesetzt zu
werden, etwa bei Gefangenenverhören. Mit Aussicht auf eine
Politoffiziers-Karriere – und nur so – schien ihm
im August 1945 sogar ein Einsatz im fernen Osten vorstellbar, nachdem
die UdSSR Japan den Krieg erklärt hatte.
Die
Personalbewegungen verliefen jedoch wenig
koordiniert, was Ausdruck des unzulänglich vorbereiteten
Übergangs der Roten Armee zu ihren Besatzungsaufgaben war. Im
August 1945 erfuhren die Offiziere des Rüdersdorfer Regiments,
daß sie versetzt würden, Ende September
wußte sie noch immer nicht wohin. Aber Gelfands Versetzung
hatte noch einen besonders unangenehmen Grund. Die Politoffiziere im
Regiment bauschten seine Disziplinverstöße, die
unerlaubten Reisen nach Berlin und seine Kontakte zu deutschen Frauen,
zu einem „Fall“ auf.
Erklärtermaßen zu erzieherischen Zwecken (aber
vielleicht auch, um Beflissenheit beweisen zu können),
stellten sie Gelfands „Freigänge“ als
abschreckendes Beispiel heraus. Das trieb ihn dazu, schnell Abschied
von diesem Regiment zu nehmen.
Im
Oktober 1945 bewarb er sich erfolglos
für den Dienst in einer Einheit südöstlich
von Berlin, dann als Schriftführer in Kremmen,
schließlich schien irgendwo eine Stelle als
Komsomol-Funktionär in Aussicht. Gelfand wurde hin und her
geschoben, auch weil seine Personalakte, wie er selbst feststellen
konnte, schlechte Zeugnisse enthielt. Einzelheiten vertraute er dem
Tagebuch nicht an, vielmehr zitierte er sich selbst mit der Antwort an
einen potentiellen neuen Vorgesetzten: Die schlechte Beurteilung
hätte wohl mit seiner Weigerung zu tun, die
Plünderung der deutschen Bibliothek aus Kräften zu
unterstützen. Als sich im Oktober 1945 eine Stelle in einem
Materialstützpunkt bot, die mit 700 bis 750 Rubel Grundgehalt
hinlänglich attraktiv war, willigte er ein.
Es war
ein knapp über dem heimatlichen
Durchschnittsgehalt besoldeter Posten in der Besatzungsarmee. 0bgleich
er mit allen Zuschlägen gut auf das Doppelte kam, konnte
Wladimir zu Hause, wo Ende 1945 auf dem zugelassenen Markt das Kilo
Zucker 250 Rubel, das Kilo Roggenbrot im Durchschnitt 24 Rubel kostete,
mit seinen Geldüberweisungen gewiß nur ein schwacher
Helfer sein. Doch er wußte die Vorteile des neuen Postens zu
schätzen: Er hatte wenig mit militärischer Ordnung zu
tun, bot Zeit, musischen Neigungen nachzugehen, und Gelegenheit
für Fahrten durchs Land. Wladimirs Stützpunk war eine
technische Versorgungsbasis [Basa materialow i oborudowanija] bei
Kremmen, nordwestlich von Berlin, die der 21. selbständigen
Trophäenbrigade unterstellt war. Dort diente er bis zu seiner
Demobilisierung im September 1946.
Wie
groß diese Versorgungsbasis war,
entzieht sich unserer Kenntnis. Ihre Transportabteilung
beschäftigte zunächst drei, Anfang 1946 dann sechs
Offiziere sowie technisches Personal aus den unteren Rängen.
Leutnant Wladimir Gelfand stellte Waren- und Materiallieferungen an
sowjetische Einheiten zusammen und begleitete sie, organisierte den
Transport von Demontage- und Reparationsgut. Bei seiner Arbeit pendelte
er ständig zwischen Nauen, Potsdam, Velten, Kremmen,
Hennigsdorf, Schönwalde, Fürstenberg und immer wieder
Berlin. Kurzzeitig setzte man ihn Anfang 1946 in einem Kremmener
Sägewerk als Produktionsleiter ein, wo ihm sechs Soldaten und
zwei Pferdegespanne unterstanden. Im Stützpunkt hatte er stets
auch Wachdienste zu übernehmen. Im Frühjahr 1946
wurde Gelfand für drei Monate gänzlich nach Berlin
abkommandiert.
Wladimir
war, wie es das Tagebuch belegt, auch
nach dem Krieg in seiner Parteigruppe aktiv. Er las Zeitungen (auch
deutsche), studierte Stalin-Reden und referierte gelegentlich zu
tagespolitischen Themen. Mit Hilfe von Soldatinnen einer in
Thüringen stationierten Einheit unternahm er von hier aus
heimlich einen privaten Ausflug nach Weimar.
Auf den
Dienstreisen war Wladimir Gelfand meist
allein unterwegs, mit Stadt- und Eisenbahn, mit Fahrrad oder per
Anhalter. Erstaunlich weite Strecken bewältigte er zu
Fuß – und er verlief sich auch. Er wohnte in
Hotels, fand - nicht nur in
vorhergesehenen Situationen - private Nachtlager, besuchte Kinos,
Theater, Bierstuben und Cafés. Er ging zum Friseur,
bestellte beim Schneider, kaufte und verkaufte auf dem Schwarzmarkt. Zu
seinen wichtigsten Errungenschaften gehörte ein Fotoapparat.
Bei Deutschen lernte er ihn handhaben, und Fotografieren wurde zu einem
spannenden neuen Hobby. Er knipste Erinnerungsfotos zum Verschenken und
ließ sich selbst in verschiedenen Kostümen und Posen
draußen und im Atelier ablichten. Unkonventionelles privates
Fotografieren – eine Entdeckung in Deutschland! Zahlreiche
Aufnahmen hielten die schönen und witzigen Momente seiner
Dienstzeit, Straßen, Gebäude und
Sehenswürdigkeiten fest.
Gelfand
kam mit vielen Leuten ins
Gespräch und schloß zahlreiche Bekanntschaften. Vor
allem aber war der Kontakt zu den Deutschen auch erotischer Natur und
höchst abwechslungsreich, was Wladimir Gelfand eine der meist
gefürchteten Krankheiten der Besatzer einbrachte, eine
Gonorrhöe. Körperlich und seelisch mitgenommen,
heilte er die Krankheit im Juli 1946 in einem Krankenhaus in
Neustrelitz aus.
An
Gelfands Begegnungen mit Frauen fällt
besonders auf, daß offenkundig keine Gewalt im Spiel war. Der
Leser mag vielleicht geneigt sein, die Aufzeichnungen für
unvollständig zu halten, oder Zugeständnisse an eine
äußere oder innere Zensur vermuten. Doch
dafür besteht kein Anlaß, die Bekenntnisse sind
offen genug.
Gewiß
wurde die Beziehung des jungen
Schöngeists zum weiblichen Geschlecht auch durch seine
jüdische Herkunft geprägt. In jüdischen
Familien galt und gilt ein respektvolles Miteinander der Geschlechter
als erstrebenswert. Die Frau soll dem Mann Gefährtin sein,
nicht Untergebene. Auch in Familien ohne religiöses
Selbstverständnis, in denen das Kulturell-Ethnische, nicht das
Glaubensbekenntnis, im bewußten Anderssein der Minderheit in
den Vordergrund rückt, hat sich das hohe Ansehen der Frau,
auch der geschiedenen, erhalten. Zur Kindheitswelt Wladimirs
gehörten zupackende Frauen. Poesie und Belletristik
mögen sein Frauenbild zusätzlich verschönt
haben. Bereits an seinen Schulkameradinnen schätzte er vor
allem Sanftheit und Klugheit.
Als
Soldat hatte Wladimir mit vielen
Mädchen brieflich in Kontakt gestanden. Daß der
Krieg sie ihm zahlreich über den Weg führte, gefiel
ihm. Unablässig schrieb er Liebesgedichte. Aus seinem Tagebuch
spricht der Drang nach romantischen Mädchenbekanntschaften und
harmonischen Bindungen. Dabei machte er zum Verdruß des
Vaters, der die jüdischen Bindungen erhalten wollte (wir
erfahren aus Briefen davon), keinerlei Unterschied zwischen den
Mädchen verschiedener Nationalitäten.
Schließlich war er Komsomolze,
„Internationalist“! Und so reizten sie ihn
zunächst einmal alle, was natürlich auch Folge einer
undefinierbaren Anziehungskraft war, solange noch keine intimen
Bekanntschaften gemacht worden waren.
Schließlich
bot sich – bald
nach Kriegsende – die Gelegenheit, mit einer deutschen
Straßenbekanntschaft das erste Mal zu
„sündigen“. Dieses erste intime
Zusammensein verlief und endete für Wladimir so wie
für Millionen Gleichaltrige. Es ließ ihn weiterhin
die Nähe deutscher wie russischer Mädchen und Frauen
suchen. Anfangs sollten sie noch klug, hübsch und reinlich
sein und – dies vor allem – ihn „treu
lieben“ (Notiz vom 3. Juni 1945). Schon bald war Wladimir
nicht mehr ganz so wählerisch. Für den
liebeshungrigen Leutnant waren die gegebenen Umstände nicht
deshalb günstig, weil er sich als Sieger in der Fremde
erlauben konnte, seinen Sexualtrieb hinter Rachebedürfnissen
versteckt auszuleben, sondern schlicht, weil die elterliche und die
gesellschaftliche Kontrolle fehlte. Im übrigen wirft sein
Tagebuch ein bezeichnendes Licht auch auf die deutsche Gesellschaft, in
der sich infolge von Militarisierung und Krieg schon vor 1945
Promiskuität auffallend ausgebreitet hatte und die
überkommene „Sittsamkeit der deutschen
Frau“ am Kriegsende vollends in Frage gestellt wurde.
Wladimir
wurde zu Hause sehr vermißt.
Die Mutter erkundigte sich bei seinen Vorgesetzten nach ihm, als einmal
lange Zeit Post ausblieb. Im Juli 1946 beantragte er Urlaub, bekam ihn
aber nicht. Gemeinsam mit den Eltern griff er trotz aller moralischer
Bedenken zu einer Finte: Ärztliche Atteste über den
schlechten Gesundheitszustand der Mutter wurden besorgt, Notlagen
dramatisiert. Die Mutter wandte sich sogar – Wladimir war
völlig entsetzt – an Stalin! Doch Urlaub wurde ihm
nicht gewährt. Statt dessen kündigte sich eine
größere Dienstreise nach Pillau nahe
Königsberg an, und Wladimir freute sich darauf, der Heimat um
einige hundert Kilometer näher zu sein. Er rechnete sogar
damit, den Gütertransport bis weit in die UdSSR hinein
begleiten zu dürfen und auf einen Sprung nach Hause zu kommen.
Die Fahrt endete schließlich in Swinemünde bzw.
Stettin. Doch bei seiner Rückkehr nach Berlin erfuhr Wladimir
von der bevorstehenden Entlassung in die Reserve und der
Demobilisierung. Der Demobilisierungsbefehl trägt das Datum
vom 10. September 1946. Mit Koffern voller teurer Geschenke
verließ Wladimir Gelfand Ende September 1946 Deutschland. Er
verließ es freudig und mit großartigen
Plänen für seine Zukunft.
Wladimir
Gelfand kehrte nach Dnepropetrowsk
zurück, wo sich seine Mutter mit viel Mühe
– und auch mit seiner Unterstützung – ein
Zimmer zur Miete erkämpft hatte. In einem Vorbereitungskurs
des Instituts für Transportwesen erwarb Wladimir die
Hochschulreife. Im September 1947 begann er ein Studium an der
Staatlichen Universität Dnepropetrowsk. Er strebte in die
große Schriftstellerei, belegte Kurse in russischer Sprache
und Literatur. 1949 heiratet er eine junge Frau, die er schon aus der
Schulzeit kannte und die während des Krieges mit ihm im
Briefwechsel gestanden hatte. Berta Dawidowna, geborene Koifman, war
die Tochter eines angesehenen Hochschullehrers und studierte Medizin.
Ihre Eltern zogen bald nach Molotow (heute Perm), eine
Großstadt im östlichen Uralgebirge. Berta und
Wladimir folgten ihnen und lebten mit in der Wohnung der
begüterten Schwiegereltern. Beide wechselten sie die
Hochschule. Im April 1950 wurde der Sohn Alexander geboren. Indes, die
Ehe stand von Anfang an unter einem schlechten Zeichen.
1952
schloß Wladimir Gelfand sein
Studium an der Molotower Universität ab. Er schrieb eine
Diplomarbeit über Ilja Ehrenburgs Roman
„Sturm“ von 1947. Wladimir wurde von Ehrenburg in
Moskau zu einem Gespräch empfangen. Doch dann mußte
Geld verdient werden. Ab August 1952 arbeitete Wladimir als Lehrer
für Geschichte sowie russische Sprache und Literatur an der
Eisenbahner-Fachschule Nr. 2 in Molotow. Die Ehe mit Berta geriet bald
in eine Krise. 1954 verließ Wladimir Frau und Sohn und kehrte
nach Dnepropetrowsk zurück. Er nahm eine Stellung als Lehrer
an einer städtischen Technischen Fachschule an.
1957
lernte er die um 10 Jahre jüngere
Absolventin des Lehrerbildungsinstituts von Machatschkala, Bella
Jefimowna Schulman, kennen. Sie absolvierte nahe Derbent ihre ersten
Berufsjahre als Lehrerin der oberen Klassen. Wenig später
verschlug es sie auf die Krim, wo Wladimir sie zu finden
wußte. Er trug ihr an, mit nach Dnepropetrowsk zu gehen.
Bella willigte ein und fand in der Einraumwohnung von Wladimirs Mutter
Aufnahme, wo neben Wladimir mittlerweile auch dessen Vater wieder
wohnte. Nach einem Jahr wurde an die gemeinsam bewohnte Stube eine
weitere für das junge Paar angebaut. Wladimir ließ
sich von seiner ersten Frau scheiden.
Aus der
glücklichen Ehe mit Bella gingen
zwei Söhne hervor. 1959 wurde Gennadi, 1963 Vitali geboren.
Die Eltern arbeiteten hart, eine Lehrerstelle in der Zehnklassenschule
bekamen beide aber nicht. Bella führt das heute auf latenten,
teilweise sogar offenen Antisemitismus zurück.
„Solange ich hier Kreisschulrat bin“, soll einer
gesagt haben, „wird kein Jude in einer Mittelschule
eingestellt.“ So arbeitete Bella mit ihrem
Hochschulabschluß in einem Kindergarten, und Wladimir blieb
zeitlebens Lehrer in Berufsschulen, zuerst in der 12., ab 1977 in der
21. Technischen Fachschule der Stadt Dnepropetrowsk.
Obgleich
das Interesse für Literatur und
Geschichte bei Schülern solcher Schulen gering ist, gelang es
Gelfand, einigen Appetit auf diese „Seelennahrung“
zu machen. Er gründete einen Geschichtszirkel, lud Zeitzeugen
ein und baute mit Schülern ein kleines Museum aus
Erinnerungsstücken von Kriegsveteranen der Region auf. Zu
seinen Unterrichtsfächern gehörten Ethik und
Politökonomie. Für einen Zusatzverdienst
übernahm er gelegentlich in den Schulferien Vorlesungen im
Auftrag eines Bildungsvereins.
Gelfand
blieb aktives Parteimitglied,
übernahm auch Funktionen in der Parteigruppe der Schule. Dort
fanden zeitweise harte Auseinandersetzungen statt. Antisemitische
Schmähungen im Lehrerkollektiv und sogar von Seiten der
Geschichtslehrer-Kollegen waren keine Seltenheit. Museums- und
Zirkelarbeit wurden ihm daher – neben der Ehe mit Bella
– zu einem Refugium.
Gelfand
las viel. Und er schrieb unentwegt.
Gelfand bot der örtlichen Presse nicht nur Berichte
über den Schulalltag und die Ergebnisse der Zirkelarbeit an,
sondern auch Erinnerungen aus seiner Zeit an der Front an. Die
späten siebziger Jahre waren seine produktivsten. Die selbst
angelegte Artikelsammlung umfaßt sieben Beiträge aus
dem Jahr 1968, 20 aus dem Jahr 1976, 30 aus dem Jahr 1978. Sie
erschienen in ukrainischer und russischer Sprache in den lokalen
Partei- und Komsomolzeitungen sowie in Zeitungen für
Bauarbeiter.
Die
Lebensumstände blieben hart, bis eine
Erbschaft aus Übersee erstmals eine kleine finanzielle
Sicherheit mit sich brachte. Ende der sechziger Jahre erstritt Bella
mit Eingaben und Anträgen eine Mietwohnung für die
Familie des Kriegsteilnehmers und Lehrers. Nach über zehn
Jahren kamen die vier Gelfands endlich aus ihren zehn Quadratmeter
Wohnraum heraus. Da der Neubau erhebliche Schäden aufwies,
setzten sie Anfang der siebziger Jahre die Einweisung in ein besseres
Haus durch. Wladimirs alte Mutter nahmen sie in die Dreiraumwohnung
mit, sein Vater lebte damals schon nicht mehr.
Das
letzte Lebensjahrzehnt verbrachte Wladimir
Gelfand in bescheidenem Wohlstand, von vielen Schülern wegen
seines weichen Naturells geliebt, im engen Freundeskreis als
Gesprächspartner geschätzt. Die Familie bot
seelischen Rückhalt im Alltag. Mit seiner Gesundheit stand es
nicht zum Besten, und zu den mit Schuldienst angefüllten
Arbeitstagen entwickelte Gelfand kaum einen körperlichen
Ausgleich. 1982 starb die Mutter. Wladimir Gelfand überlebte
sie nur um ein Jahr.
Im Zuge
der deutschen Beschäftigung mit
dem Zweiten Weltkrieg hat die Entdeckung
außergewöhnlicher persönlicher Zeugnisse
schon mehrmals für Aufsehen gesorgt. Aus dem großen,
mittlerweile gut erschlossenen Fundus individueller
Hinterlassenschaften wie privater und halböffentlicher
Korrespondenzen oder Fotosammlungen fanden einige
Äußerungen zu Erlebnissen an der deutschen Ostfront
besondere Aufmerksamkeit. So die Gedichte in Briefen von Hermann
Kükelhaus[v]
und das „Bekenntnis aus dem großen Krieg“
von Willy Peter Reese[vi].
Wladimir Gelfands Aufzeichnungen dokumentieren nun zum ersten Mal eine
Haltung auf der anderen Seite der Front.
Als
Stefan Schmitz 2003 die überlieferten
Texte des Wehrmachtssoldaten Reese vorstellte sowie dessen Erlebnisse
an der Ostfront rekonstruierte und kommentierte, kam er zu dem
Schluß: „Willy Reese ist nicht der typische
›kleine Mann‹. Er ist hoch gebildet, ein
fanatischer Leser. Sich selbst sieht er als Dichter und träumt
vom Leben in einem freien Deutschland.“[vii]
In
einem gewissen Sinne haben wir es beim
Zeitzeugen Gelfand mit einem sowjetischen Willy Reese zu tun. Um zwei
Jahre jünger als dieser, war auch Gelfand ein sensibler Junge,
kein Muskelprotz und nicht für Kampfspiele zu haben. Er erwarb
sich überdurchschnittliches Wissen, er las viel und
übte sich in verschiedenen literarischen Ausdrucksformen.
Beide Männer sahen im Schreiben an der Front auch ein Mittel,
um über das Grauen hinwegzukommen. Die seelischen
Schäden, die ein Krieg bewirkt, sah Gelfand weniger deutlich,
er war und blieb als Soldat naiver als sein deutscher
Leidensgefährte. In der Wiedergabe der Geschehnisse war
Gelfand weniger analytisch als Reese, weniger lebensklug, weniger
gedankengründlich. Reese löste sich deutlicher vom
bloßen Beobachten, und das, so Schmitz, bereits in seinen
Tagebuchnotizen. Gelfand führte nur für sich allein
das Tagebuch und unternahm nicht einmal den Versuch, seine Erfahrungen
zusammenzufassen. Die literarisch ambitionierten unter seinen
Tagebucheintragungen dienten eher der Übung. Gelfands Blick
war trotz großen Interesses für Politik kaum
für gesellschaftliche Zusammenhänge
geschärft, er war vor allem mit sich selbst
beschäftigt. Die Friedenszeit ließ ihn reifer und
erwachsen werden. Seine Deutschland-Notizen aus dem Jahr 1946 zeugen
schon von verarbeiteter Erfahrung und größerem
Weitblick.
Über
diese mehr oder weniger formelle
Gegenüberstellung hinaus lassen sich die Haltungen dieser
beiden Kriegsteilnehmer aber nur punktuell miteinander vergleichen.
Reese und Gelfand führten verschiedene Kriege, und eine
Bewertung ihrer Sichten auf das Soldatsein, auf das Töten und
das Sterben an der Front müßte die unterschiedlichen
gesellschaftlichen Zusammenhänge berücksichtigen, in
denen sie aufwuchsen und als Soldaten agierten. Außerdem sind
im Unterschied zu den Haltungen in der Wehrmacht die in der Roten Armee
bislang so gut wie gar nicht untersucht. Der Leser des
Gelfand-Tagebuches kann also nur ahnen, nicht aber wissen, worin genau
sich dieser Rotarmist von anderen unterschied.
Am Ende
des Krieges war Gelfand das, was die
gefallenen Reese und Kükelhaus gar nicht mehr hatten sein
wollen: Sieger. Seine Aufzeichnungen belegen, daß zumindest
er diese Rolle nicht auslebte. Er sprach nicht herablassend von und mit
den Besiegten. Das Tagebuch läßt sein wachsendes
Interesse an dem fremden Land erkennen: an Landschaft, Sitten und
Gebräuchen. Der gebildete Gelfand befasste sich mit
Zeugnissen klassischer deutscher Kultur. Für die
aktuellen sozialen und politischen Probleme der Deutschen interessierte
er sich hingegen nicht. Gelfand entwickelte kein Gespür
für ihre Nachkriegssorgen. Das ist um so erstaunlicher, als er
die internationalen Geschehnisse doch recht aufmerksam verfolgte und
als Parteimitglied bewußt bewertete. Zur politischen
Entwicklung im Besatzungsgebiet nahm er kein einziges Mal Stellung. Man
kann das als ein Indiz dafür ansehen, daß die
Besatzungssoldaten und selbst Offiziere 1945/46 kaum mit politischer
Bildung behelligt wurden, wie sie einem Auftrag zur
„Sowjetisierung“ der Besatzungszone entsprochen
hätte.
Für
einen Besatzer mit intensivem Kontakt
zu den Deutschen zeigte Gelfand andererseits wenig Mitgefühl.
Er dürfte gewußt haben, wie stark zum Beispiel das
durch Demontagen dezimierte Schienennetz, der Waggonpark und der
gesamte Eisenbahnverkehr von Reparationsleistungen beansprucht wurden.
Dennoch konstatierte er kühl amüsiert, daß
sich die Deutschen wie Heringe in den Zügen drängten,
sich um Plätze schlugen und die leeren, für
Angehörige der Besatzungsmächte reservierten Abteile
gierig beäugten. Aus der Perspektive des gut versorgten
Besatzungsoffiziers, der für ein kleines Geburtstagsbankett
bedenkenlos einen Betrag in Höhe von zwei, drei
Monatsgehältern eines deutschen Metallfacharbeiters ausgeben
konnte, waren die ständig kauenden, aufs Essen versessenen
Deutschen unkultiviert. „Anständig gekleidete,
seriös wirkende Menschen wickeln langsam sorgfältig
in Zeitung eingeschlagene Brote aus und genieren sich nicht, sie vor
aller Augen zum Mund zu führen“, hielt er fest
(Notiz vom 18. September 1945). Schnell war er mit dem Pauschalurteil
bei der Hand: „Ein Deutscher läßt niemals
einen Pfennig (weniger als eine Kopeke, in Rubeln gerechnet) fallen,
ohne ihn dann wieder aufzuheben, schenkt niemals etwas, nicht einmal
geringste und nichtigste Kleinigkeiten, ohne einen doppelten Nutzen
für sich selbst. Niemals gibt er einem Bettler mehr als zehn
Pfennig und verläßt nie den Ladentisch, ohne auf den
Heller genau nachzuzählen.“ (Notiz vom 10. August
1946)
Die
Lebensverhältnisse seiner deutschen
Geliebten scheinen Wladimir Gelfand nicht sonderlich interessiert zu
haben. Ihre politischen Ansichten brachten ihn nur ein einziges Mal
kurz zum Nachdenken. Er stellte erstaunt fest, daß ein
deutsches Mädchen, das er begehrte, rassistischen
Vorstellungen anhing. Aber dies war weder Anlaß für
tiefere Überlegungen noch ein Grund, von ihr abzulassen.
Wladimir
reflektierte auch die
alltägliche Not der „Besetzten“ mit den
Besatzern nicht. Gewalt anderer sowjetischer Armeeangehöriger
gegenüber deutschen Frauen kommt in seinem Tagebuch kaum vor.
Er nahm entsetzt einen solchen Fall noch während der
Kämpfe in Berlin zur Kenntnis und bekundete starkes Mitleid.
Aber es scheint, daß er derlei – wie die
Gemeinheiten im Umgang zwischen Kampfgefährten – als
verabscheuungswürdig einordnete, ohne nach Dimensionen,
Ursachen und Folgen zu fragen. Seine Sicht auf die Dinge war 1945 doch
recht einfach. Gelfands Zurückhaltung bezeugt zugleich,
daß Vergewaltigungen damals auf Seiten der Siegermacht kein
Thema von Analysen waren, in der alltäglichen Kommunikation
verharmlost und strafrechtlich kaum beurteilt wurden. Andernfalls
hätte der politisch aktive Gelfand dieses Thema
gewiß aufgegriffen. Wir erfahren aber, daß ihm
– umgekehrt – seine gewaltfreien Kontakte beinahe
zum Verhängnis geworden wären. Als im September 1945
an ihm ein disziplinarisches Exempel statuiert werden sollte, warf man
ihm vor, daß er sich mit deutschen Frauen eingelassen hatte.
„Gelfand, dem die Deutschen die eigene Familie umgebracht
haben, läßt sich jetzt mit deutschen
Mädchen photographieren, bewahrt ihre Photos bei sich auf und
amüsiert sich mit ihnen“, hieß es (Notiz
vom 6. Oktober 1945).
Wladimir
Gelfand war mit seinen 23 Jahren nicht
reif für Beobachtungen und Stellungnahmen, wie wir sie heute
von ihm gern lesen würden. Er hatte bislang nur gelernt, die
politische Welt durch das Raster sowjetischer Zeitungsartikel zu
betrachten. So gesehen war er der Masse seiner Kameraden doch wieder
näher als Reese den seinen.
Gelfands
literarisches Talent zu bewerten,
dürfte schwerfallen. Auch Lew Kopelew benötigte ja
zeitliche Distanz, um die Fronterlebnisse in einer Dokumentation mit
künstlerischem Wert auswerten zu können.
Daß die Frontzeitungen seine Gedichte nicht
veröffentlicht hatten, erklärte sich Gelfand vor
allem mit den widrigen Umständen. Zugleich gestand er sich
selbst mangelnde Übung ein. Während des Studiums
wurde er immer häufiger dessen gewahr, daß seinen
literarischen Versuchen die erwartete Anerkennung versagt blieb. Eine
Mitstudentin bemerkte, er wäre ein sehr guter Kritiker, kein
guter Schreiber. Doch das focht ihn nicht an. Gelfands Willen, die
handwerklichen Grundlagen der Dichtkunst zu erlernen, war
übergroß. Wenn schon nicht als Lyriker, dann wollte
er als Prosaist unbedingt erfolgreich sein. Er bemühte sich um
ein kundiges Forum und besuchte einen literarischen Studentenzirkel.
Und er fand immer wieder auch Bestätigung, sogar bei namhaften
Leuten. Wenn er schreiben wolle, so hatte Ehrenburg ihn ermuntert, dann
solle er das auch unbedingt tun.
Gelfands
Literaturinteresse war von den
schriftstellerischen Größen der Sowjetunion der
dreißiger Jahre geprägt. Er liebte noch aus
Schulzeiten Demjan Bedni, Janka Kupala, Jossif Utkin, Alexej Tolstoi
und Weressajew. Er schätzte Maxim Gorki, Nikolaj Tichonow und
Wsewolod Wischnewski. Das waren keinesfalls Vertreter einer
hurra-patriotischen Massenkultur. Gelfand weist sich mit seiner
Lektüre vielmehr als Liebhaber traditioneller romantischer
Stoffe und als Humanist aus, der zugleich für gekonnte Satire
und Agitpropkultur zu haben war. Im Krieg las er in Frontzeitungen viel
von Ilja Ehrenburg, bei Gelegenheit griff er sich – laut
Tagebuch – Romane von Lion Feuchtwanger und Mark Twain.
Während des Studiums interessierte er sich für Wera
Inber, die seit langem verehrte Leningrader Poetin.
Selbstbewußt stellte er fest, daß die um
dreißig Jahre Ältere fast zur gleichen Zeit in die
kommunistische Partei eingetreten war wie er. „Ich habe viel
mehr im Krieg erlebt als sie“, schrieb er 1947 nach der
Lektüre von Inbers Blockade-Aufzeichnungen in sein Tagebuch.
„Ich müßte schon deshalb viel ergreifender
schreiben können als sie...“ – An vielen
Darstellungen über den Krieg störten ihn Ende der
fünfziger Jahre vor allem die verzerrte Sicht auf die Ursachen
des Rückzugs und die beschönigende Beschreibung der
„inneren Verbundenheit“ an der Front. Aus eigener
Erfahrung wollte er gegen die Verklärung des „rauhen
Kerns“ in der russischen Soldatenseele anschreiben, so wie
sie Michail Scholochow betrieb.
Doch
die Zeit arbeitete gegen ihn, und das
gesellschaftliche Umfeld bot immer weniger Raum für kritische
Rückschau. Als er in den siebziger Jahren endlich Gelegenheit
bekam, Fragmente seiner Kriegserinnerungen zu veröffentlichen,
konnte sich Gelfand zudem der Schere im eigenen Kopf nicht erwehren. So
zitierte er die Verse, die er 1945 am Reichstag und 1946 an der
Siegessäule hinterließ (Notizen vom 24. August und
18. Oktober 1945, Brief vom 6. August 1945 an die Mutter), nie wieder
im Original. Statt ihrer findet sich in seinem ganzseitigen Artikel
„Der Sieg in Berlin“ im „Sowetskij
Stroitel’“ vom 25. April 1975 ein angeblich in
Berlin hinterlassener Vers, in welchem die ursprünglichen
Zeilen „Und schaue und spucke auf Germanien – Auf
Berlin, das besiegte, spucke ich“ ersetzt waren durch die
harmlosen „Schaut her, hier bin ich, Sieger über
Deutschland – In Berlin habe ich gesiegt.“
Dies
wird man als künstlerische
Bearbeitung eines eigenen Gedichtes akzeptieren müssen. Auch
daß Gelfand in dem Artikel den Eindruck erweckte, im April
1945 als Angehöriger des 1052. Schützenregiment
kämpfend in Berlin eingezogen zu sein (er beschrieb
Kampfszenen, die er allenfalls als Schreiber des Fronttagebuches
miterlebt haben konnte, als er auf eigene Faust die Stellungen
aufsuchte), kann man ihm nicht übelnehmen. In der Sowjetunion
der fünfziger bis siebziger Jahre hielt sich, unterschiedlich
stark artikuliert, das Gerücht, die Juden des Landes
hätten – analog zu den Sowjetbürgern
deutscher Nationalität – an der Front nicht
gekämpft. In seinem eigenem Lehrerkollegium war Gelfand
wiederholt mit verleumderischen Andeutungen dieser Art konfrontiert.
Die
Geschichte um das deutsche Frauenbataillon ist
indes ein besonderes Beispiel von Selbstzensur durch den
späteren Gelfand. Die Begebenheit soll sich im Februar 1945
östlich der Oder zugetragen haben. Wladimir Gelfand kannte sie
nur aus zweiter Hand. Schon 1945 beschäftigte sie ihn so sehr,
daß er innerhalb eines Monats zweimal im Tagebuch auf sie
einging (siehe Notizen vom 21. Februar und 20. März 1945). Es
gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß irgendwann
einmal im Krieg ein deutsches „Frauenbataillon“ zum
Einsatz kam, es gibt – umgekehrt – Grund
für erhebliche Zweifel daran. Die im Tagebuch referierte
Erzählung eines anderen Rotarmisten deutet eher auf
männliche Sexualphantasien hin. Nicht aus zweiter, sondern aus
erster Hand erfahren wir aus Gelfands Tagebuch allerdings, zu welchen
Racheakten die Rotarmisten in seiner Einheit und er selbst in der Lage
gewesen wären, hätten sie diese Frauen erwischt. Die
grausigsten Erlebnisberichte geschändeter weiblicher
Zivilisten und Gefangener scheinen auf.
Die
Frauenbataillons-Geschichte, die Gelfand Ende
der siebziger Jahre für einen Sammelband von
Kriegsteilnehmer-Erinnerungen anbot,[viii]
enthielt keine Hinweise auf Rache und sexuelle Gewalt mehr. Die
Experimente an den gefangenen Frauen, „die auf Papier nicht
wiederzugeben sind“, und die Erschießung der
meisten (Notiz vom 20. März 1945), ließ Gelfand weg.
Im Zuge künstlerischer Verarbeitung, die ihn selbst zum
Augenzeugen machte, ordnete er das Ereignis in der Phase der
Abschlußkämpfe um Berlin ein, und die noch weniger
skrupulöse Redaktion verlegte die Szene schließlich
in den Treptower Park. Gelfand bereicherte die Geschichte zudem um
weitere Details. Die konnten ihm seinerzeit durchaus erzählt
worden sein (im Tagebuch fehlen sie), doch die Ergänzungen
vertragen sich schlecht mit der Schilderung im Tagebuch. Gelfand erfand
vermutlich auch die SS-Leute im Hintergrund. Er ließ die
Frauen am Ende seines Berichtes alle unversehrt in Gefangenschaft
kommen, und die Redakteure machten daraus das kurze Fazit:
„Das Bataillon überlebte.“
Für
diesen Umgang mit der eigenen
Geschichte eine Erklärung zu finden, fällt schwer.
Keiner hatte Gelfand genötigt, ausgerechnet diese Geschichte
aufzugreifen und auszuschmücken und damit von
schriftstellerischer Freiheit in einer Weise Gebrauch zu machen, die
seiner Verantwortung als Zeitzeuge entgegenstand. Denn solche Texte
gingen als wahrhaftige Erinnerungen in den sowjetischen
Geschichtsdiskurs ein. Gelfand veröffentlichte auch andere
Fragmente seiner Kriegserinnerungen, die in Kenntnis des
angeführten Beispiels kritisch zu betrachten wären.
Von der distanzierten Haltung, die Gelfand gegenüber
schöngefärbter Kriegsliteratur noch Ende der
fünfziger Jahre eingenommen hatte, lassen diese Texte nichts
mehr erkennen. Seine späten Reflexionen, die, wie
erwähnt, nun auffällig oft veröffentlicht
wurden, sind als Teil der öffentlichen Kultur der
Breschnew-Ära zu bewerten, in der der gesellschaftliche
Diskurs die relative Offenheit der sechziger Jahre
eingebüßt hatte und Erinnerungen manipuliert wurden.
Der Lehrer und Kommunist Gelfand muß sich mit den
patriotisch-didaktischen, letzten Endes politischen Zwecksetzungen
einer solchen Erinnerung derart identifiziert haben, daß das
schriftstellerische Gewissen seiner jungen Jahre verstummte. Das
Tagebuch des Rotarmisten Gelfand gewinnt vor diesem Hintergrund in
seiner Authentizität noch größeren Wert,
die hinzugefügten Briefe spiegeln die Situationsgebundenheit
seiner Wahrnehmungen wider. Es sind sehr private, unzensierte Zeugnisse
der Erlebnisse und Stimmungen eines Rotarmisten und Besatzers in
Deutschland.
Gewiß, Gelfands Verhalten, seine Empfindungen und Wertungen können nicht verallgemeinert werden. Und so sind auch die Aussagen des Wladimir Gelfand über die Deutschen und Deutschland zunächst einmal als seine ganz persönlichen zu verstehen. Gleichwohl ist es aufschlußreich, wie der junge Rotarmist das Kriegsende und die deutsche Zusammenbruchsgesellschaft sah. Wir bekommen gänzlich neuartige Einblicke in die Kampfgemeinschaft der Roten Armee und ihre moralische Verfaßtheit, die in sowjetischen Darstellungen allzu oft glorifiziert worden ist. Die Gelfand-Tagebücher (insbesondere die aus den hier nicht behandelten ersten Kriegsjahren) stehen zudem der häufig vertretenen These entgegen, die militärischen Erfolge der Roten Armee seien vorrangig auf systemische Repression zurückzuführen. Des weiteren wird anschaulich, was unter dem gewachsenen Selbstbewußtsein der Frontkämpfer-Generation zu verstehen ist, das Stalin so fürchtete. Gelfand steht für eine bestimmte Gruppe unter den Siegern, für junge Offiziere, die aus ihrer Bewährung an der Front das Recht ableiteten, einen langweiligen Referenten lächerlich zu machen, Denunziationen abzuwehren, einem hochgestellten Parteifunktionär ohne Umschweife zu widersprechen und – im besetzten Deutschland auch „eigene Wege“ zu gehen. An den Frauenerlebnissen Gelfands ist zu erkennen, daß es 1945/46 auch liebevolle Beziehungen zwischen männlichen Siegern und weiblichen Besiegten geben konnte. Der Leser bekommt glaubwürdig vorgeführt, daß auch deutsche Frauen den Kontakt zu Sowjetsoldaten suchten, - und dies nicht etwa nur aus materiellen Gründen oder aus einem Schutzbedürfnis heraus
Über das Verhältnis „der Russen“ zu „den Deutschen“ am Ende des Zweiten Weltkrieges wird also weiter nachzudenken sein.
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[i] Ähnliche Pläne hatte
beispielsweise Stepan Podlubnyj (Jahrgang 1914), dessen Tagebuch
bekannt wurde: Tagebuch aus Moskau 1931-1939, aus dem Russischen
übersetzt und herausgegeben von Jochen Hellbeck,
München 1996
[ii] Heinrich Böll. Briefe aus dem Krieg 1939
– 1945, herausgegeben und kommentiert von Jochen Schubert, 2
Bände, Köln 2001, hier Bd. 2, S. 950, Brief vom 19.
11. 1943.
[iii] Gelfands Tagebuch und andere echte
Tagebücher belegen, daß es in allen Phasen des
Krieges auf sowjetischer Seite eine Unmenge von Soldaten und Offizieren
gab, die zeitweise von ihrem Truppenteil getrennt waren und sich hinter
der Front selbständig bewegten. Dienstaufträge wurden
unter Hinweis auf angebliche und tatsächliche
Transportprobleme von den Betreffenden räumlich und zeitlich
sehr freizügig ausgelegt, Disziplinverstöße
oft nachsichtig behandelt.
[iv] Siehe V. S. Antonov, Put’ k Berlinu,
Moskau 1975, S. 239.
[v] Hermann Kükelhaus, „...ein
Narr der Held“. Gedichte in Briefen, herausgegeben und mit
einem Vorwort von Elizabeth Gilbert. Zürich 1964 (1985 u.a.).
Die Erstausgabe erschien 1947 im Potsdamer Verlag Eduard Stichnote.
[vi] Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Die
Unmenschlichkeit des Krieges, Russland 1941-44. Hrsg. von Stefan
Schmitz. München 2003.
[vii] Ebenda, Vorwort von Stefan Schmitz, S. 17.
[viii] Im Nachlaß Gelfands existieren ein
Manuskript und ein Typoskript dieser Geschichte. Verkürzt und
„redigiert“ erschien sie in: Nam
dorogi eti posabyt
nelsja. Wospominanija frontowikow Welikoi Otetschestwennoi
[Wir
dürfen diese Wege nie vergessen. Erinnerungen von
Frontkämpfern des Großen Vaterländischen
Krieges], Verlag Politisdat Ukraine, Kiew 1980, S. 365–366.
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