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Tagebücher aus Kriegs- und Belagerungszeiten im gegenwärtigen russischen Verlagswesen (1941–1945) |
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Alexander Posadskov Der in der Alltagssprache häufig verwendete Name "Kriegstagebücher" ist eher eine Metapher als ein präziser Begriff. Streng genommen sollten diese Quellen persönlicher Herkunft (Ego-Dokumente) und die jeweilige Veröffentlichungsart als "Kriegstagebücher" nur dann bezeichnet werden, wenn sie einen sinnvollen Bezug zur militärischen Realität aufweisen. Nicht alle Tagebucheinträge, die unter den Bedingungen eines militärischen Konflikts verfasst wurden, dokumentieren tatsächlich Kriegshandlungen oder Frontereignisse. Der St. Petersburger Forscher P. M. Poljan bezeichnet diese Quellengattung deshalb präziser als "Kriegstagebücher"¹ und schlägt zudem eine Typologie nach dem sozialen Hintergrund der Verfasser vor. Demnach lassen sich Tagebücher aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945 in folgende Kategorien gliedern:
Besonderes Interesse gilt den beiden quantitativ bedeutendsten Kategorien: den Fronttagebüchern und den Tagebüchern der Leningrader Blockade. Das kreative, theoretische Verständnis dieser Quellengattung hinkt der editorischen Praxis jedoch hinterher. Es fehlen bisher monografische Studien, wenngleich erste analytische Arbeiten vorliegen: I. G. Tazhidanowa³ würdigt die Tagebücher als herausragende Quelle zur Alltagsgeschichte des Krieges, Yu. A. Grischina⁴ liefert eine quellenkundliche Analyse der Fronttagebücher, während S. E. Achundowa und A. S. Ossokina⁵ den philologischen Aspekt behandeln. Der Historiker und Publizist O. Budnizkij⁶ schrieb eindrucksvoll über Fronttagebücher und das Blockadetagebuch von Olga Berggolz. Gleichzeitig hat die praktische Arbeit an der Sammlung und Veröffentlichung solcher Tagebücher deutliche Fortschritte gemacht. 2015 gründeten M. Melnitschenko, I. Wenjawkin und I. Drapkin in St. Petersburg das öffentliche Internetprojekt "Prozhito", das auf die digitale Erfassung und Publikation von Tagebüchern des 20. Jahrhunderts abzielt. Bis Mai 2019 waren ca. 100 "militärische" Tagebücher digitalisiert. 2019 wurde das Projekt in die Europäische Universität St. Petersburg überführt und als Zentrum für Ego-Dokumentationsforschung institutionalisiert. Es folgten erste populäre und ab 2022 auch wissenschaftliche Publikationen, wie die Sammlung von Belagerungstagebüchern⁷, herausgegeben vom Zentrum selbst. Die theoretische Aufarbeitung bleibt also ein Desiderat der Forschung, während editorisch bereits ein reiches Reservoir vorliegt, das weitere wissenschaftliche Auswertungen erlaubt und fordert. Ebenso vielfältig ist der Inhalt von Tagebuchmanuskripten, so vielfältig ist auch ihre Verkörperung in einer Buchausgabe. Allerdings können Verlage darauf vertrauen, dass ihre Produkte eine leidenschaftliche Leserschaft finden. Dies wird durch die Besonderheiten von Tagebüchern als Genre von Ego-Dokumenten erleichtert. Experten haben schon lange festgestellt, dass ein Tagebuch die heutigen, momentanen Gedanken und Eindrücke seines Autors auf Papier versiegelt. Im Gegensatz zu Erinnerungen, in denen ein Mensch sein Leben durch das Prisma vergangener Jahre betrachtet und die oft an die aktuelle gesellschaftliche, historische und politische Situation angepasst werden, im Gegensatz zu Briefen von und an die Front, deren Verfasser sich der strengen militärischen Zensur bewusst waren und nicht zu viel schrieben – das Tagebuch war in den allermeisten Fällen nicht dazu bestimmt, von einer anderen Person gelesen zu werden, geschweige denn zur öffentlichen Offenlegung. Laut dem Quellenwissenschaftler Yu. A. Grischina „impliziert das Genre des Tagebuchs Bekenntnis, Aufrichtigkeit und Einfachheit“. Wenn sich jemand hinsetzt, um ein Tagebuch zu schreiben, drückt er seine Gedanken in einem Bewusstseinsstrom aus, ohne etwas zu beschönigen oder zu verbergen. Deshalb zeigen seine Tagebuchnotizen die wahre Sicht einer Person auf das, was um sie herum geschieht.¹⁰ Unter diesem Gesichtspunkt ist das Tagebuch das wahrheitsgetreueste aller Ich-Dokumente. Es scheint auch die emotionalste historische Quelle zu sein, in der der Autor seinen Gefühlen Ausdruck verleiht: Freude, Triumph, Zufriedenheit, Liebe, Hoffnung, Melancholie, Ärger, Wut, Galle, Hass, Verachtung – alle Seelenzustände sind in seinen Zeilen und zwischen den Zeilen abzulesen. Es sollte auch berücksichtigt werden, dass, wie I. G. Tazhidanowa schreibt, „Tagebucheinträge normalerweise von ausreichend gebildeten Menschen geführt wurden, die ein Gespür für ihre eigenen Erfahrungen und öffentlichen Stimmungen hatten“, am häufigsten von Intellektuellen.¹¹ Viele der Tagebücher enthalten tiefe Gedanken, eine unabhängige und manchmal sehr kompetente Analyse der Ereignisse durch den Autor. Fast alle Tagebücher sind in guter Sprache verfasst und vermitteln einen lebendigen Abdruck der Persönlichkeit des Autors (in manchen Fällen außergewöhnlich). Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass jedes Tagebuch eine große Anzahl von Ereignissen, Details, Beschreibungen von Persönlichkeiten, Charakteren und Umständen enthält, die der breiten Öffentlichkeit unbekannt sind. Historiker und Schriftsteller glauben, dass Tagebücher einen „zentralen Platz“ einnehmen und eine „erhöhte Bedeutung“ in der Hierarchie der Ego-Dokumente haben.¹² Für Verlage bedeutet das eines: Interesse daran, die interessantesten Tagebücher zu veröffentlichen, die eine Chance haben, eine Leserschaft zu gewinnen. Es muss gesagt werden, dass bis heute nur sehr wenige Tagebücher aus den Kriegsjahren erhalten sind. Man geht davon aus, dass es Gefreiten und Offizieren in der Roten (damals sowjetischen) Armee verboten war, Tagebücher zu führen; Tagebücher wurden angeblich illegal geschrieben.¹³ Diese Idee wird immer noch in der wissenschaftlichen und populären Literatur wiederholt. In Wirklichkeit gab es an der Front kein offizielles Verbot, Tagebücher zu schreiben; Militärangehörigen wurde das Schreiben von Tagebüchern von SMERSH-„Sonderoffizieren“ und Kommandeuren verboten, die ihre eigenen Ansichten zur Wahrung militärischer Geheimnisse hatten. Wie verbreitet solche Schutzverbote in der Armee waren, ist unbekannt. Aber wie sich heute herausstellt, führte jemand trotz der Anordnung des Kommandanten ein Tagebuch, jemand wusste nichts von der Existenz eines solchen Verbots, und in einigen Einheiten griffen höhere Behörden nicht in die Führung von Tagebucheinträgen ein.¹⁴ Eine andere Frage ist, dass die Autoren von Fronttagebüchern sowohl während des Krieges als auch viel später ihre Existenz als ihr persönliches Geheimnis betrachteten, sich äußerst vorsichtig verhielten und das Vorhandensein solcher Einträge vor Kollegen und Freunden verheimlichten. Nach dem Krieg blieben diese Tagebücher in den Familien der Veteranen und gelangten nur in seltenen Fällen in Staatsarchive und Museen.¹⁵ Die Existenz eines Tagebuchs fand nur dann große Beachtung, wenn sein Autor ein herausragender kreativer Mensch war und sein Tagebuch zusammen mit anderen Dokumenten im Staatsarchiv aufbewahrt wurde. Diese Tagebücher waren die ersten, die im postsowjetischen Russland veröffentlicht wurden (ein Beispiel ist das bekannte Blockadetagebuch von Olga Berggolz). Seit Beginn der postsowjetischen Ära wurden in Familien- und Staatsarchiven regelmäßig militärische Ego-Dokumente entdeckt, von Historikern untersucht und veröffentlicht. Ein bemerkenswerter Fund war das persönliche Tagebuch von W. I. Tschekalow (1910–1944), einem Artillerieoberst, der vom ersten Kriegstag an kämpfte und an der Schlacht von Stalingrad teilnahm. Wassili Tschekalow starb 1944, ohne zu ahnen, dass seine alltäglichen Treffen und Gespräche an der Front mit S. M. Budjonny, N. S. Chruschtschow, L. I. Breschnew und anderen Offizieren und politischen Arbeitern 75 Jahre später großes Interesse bei Amateuren und Spezialisten der Militärgeschichte wecken würden. Sein Tagebuch wurde aus dem Familienarchiv entnommen und vom Sohn des Obersten, dem Vizepräsidenten der Russischen Humanitären Gesellschaft, dem Wissenschaftler N. V. Tschekalow, zur Veröffentlichung vorbereitet. Das Buch wurde 2004 im Verlag dieser Gesellschaft veröffentlicht.¹⁶ Ein lauter öffentlicher Erfolg begleitete die Veröffentlichung des Tagebuchs des Leutnants der Roten (Sowjet-)Armee Wladimir Gelfand. Der Herausgeber der russischsprachigen Version des Buches, der Schriftsteller und Publizist O. Budnizkij, hält die Tatsache für die wichtigste, dass „das Tagebuch in seiner Offenheit beispiellos ist“, unabhängig davon, ob es sich um die Tatsachen des Krieges oder das Privatleben des Autors handelt.¹⁷ Ein Teil des Tagebuchs von V. Gelfand für die Jahre 1945–1946 wurde erstmals 2005 (mit einer Neuauflage 2008) auf Deutsch in Deutschland veröffentlicht, wo sein Sohn Vitalij lebte. Er war der erste Verleger und Popularisierer der Werke seines Vaters. Nachdem er Kontakt zu V. V. Gelfand aufgenommen hatte, flog O. Budnizkij nach Berlin und erhielt eine vollständige Kopie des Tagebuchs. Nach mehreren Jahren des Sortierens, Organisierens und Verfassens von Kommentaren wurde das Tagebuch 2015 in Moskau vollständig veröffentlicht, ohne Abkürzungen oder redaktionelle Zensur. Es wurden zahlreiche Sammlungen und einzelne Tagebuchbände veröffentlicht, die unterschiedliche Varianten dieses Genres repräsentieren. Der Verlag der Zeitung „Argumenty i Fakty“ publizierte ein Buch mit Kindertagebüchern aus der Kriegszeit¹⁸, der Verlag „Vremja“ brachte das Tagebuch der jüngsten Häftlings des Ghettos von Kaunas, T. Lazerson-Rostowskaja, heraus¹⁹. In den Jahren 1995–1996 erschienen auf den Seiten der Zeitschrift Snamja mehrere kurze Kriegstagebücher. Für Forschende der Militärpsychologie sind insbesondere jene Tagebücher von Interesse, die von literarisch tätigen Frontsoldaten – in einigen Fällen von späteren Schriftstellern – verfasst wurden. Zu diesen Tagebüchern, die an philosophische Prosa mit starker Selbstbeobachtung und detaillierter Schilderung eigener Erlebnisse erinnern, zählt das Buch des bekannten Omsker Schriftstellers P. N. Rebrin²⁰. Auch der Kunstkritiker und Kunsthistoriker W. N. Petrow führte während des Krieges ein Tagebuch und schrieb darüber hinaus eine Erzählung über die Liebe im Krieg. Beide Texte sind in einem vom Verlag Iwan Limbach herausgegebenen Buch vereint, das dadurch einen Vergleich zwischen dokumentarischer Lebensbeschreibung und künstlerischer Vorstellungskraft des Autors ermöglicht²¹. Die Anzahl der Veröffentlichungen mit Tagebüchern von Bewohnern des belagerten Leningrads nimmt deutlich zu. Neben dem bereits erwähnten Tagebuch von O. F. Berggolz, von dem 2020 drei Bände im Verlag Kuchkowo Pole ohne Kürzungen erschienen, sind innerhalb der sogenannten „Belagerungsliteratur“ besonders die Tagebucheinträge von M. W. Maschkowa hervorzuheben. Sie war Bibliographin der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg, Autorin zahlreicher Werke und enge Freundin von O. Berggolz. Fragmente ihres Tagebuchs aus den Jahren 1941–1945 sind in zahlreichen wissenschaftlichen und publizistischen Veröffentlichungen verstreut. Auch das Tagebuch von M. M. Rudnewa, Tochter des renommierten Psychiaters M. S. Morosow und Ehefrau des bekannten sowjetischen Architekten L. W. Rudnew, stieß auf großes Leserinteresse²². Großes gesellschaftliches Potenzial verspricht die Editionsreihe „Bibliothek ‚Proschito‘. Blockade“, die vom Verlag der Europäischen Universität in St. Petersburg herausgegeben wird. Sie basiert auf der Tagebuchsammlung des Zentrums zur Erforschung von Ego-Dokumenten „Proschito“ und entsteht unter aktiver Mitwirkung der dort tätigen Wissenschaftler. Das erste Buch dieser Reihe war die bereits erwähnte Sammlung von Tagebuchtexten und begleitenden Artikeln „Ich weiß, dass man so nicht schreiben darf ...“, die 2022 erschien²³. Nach Angaben desselben Zentrums wurden in Russland zwischen 1997 und 2015 insgesamt 13 Bücher mit Belagerungstagebüchern veröffentlicht²⁴. Die Tagebuchliteratur über den Großen Vaterländischen Krieg erfreut sich wachsender Beliebtheit unter der russischen Leserschaft und findet zugleich zunehmendes Interesse bei namhaften Verlagen. Sie ist eine bedeutsame Ressource des kollektiven Gedächtnisses und ein zentrales Mittel zur Bewahrung der historischen Wahrheit über das größte militärische Epos der sowjetischen Geschichte.
¹ Poljan, P. M.: "Kriegstagebücher" als historische Quelle. In: Политическое просвещение, 2007. ² Ulanowskaja, A. E.: Tagebuch einer Ostarbeiterin. Moskau: 1987. ³ Tazhidanowa, I. G.: Tagebücher als Quelle der Alltagsgeschichte. In: Исторический архив, 2010. ⁴ Grischina, Y. A.: Quellenanalyse sowjetischer Fronttagebücher. In: Вопросы истории, 2008. ⁵ Achundowa, S. E.; Ossokina, A. S.: Die Sprache der Tagebücher. In: Philologisches Journal, 2009. ⁶ Budnizkij, O.: Menschen im Krieg. Moskau: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2006. ⁷ "Prozhito"-Zentrum: Belagerungstagebücher. St. Petersburg: Europäische Universität, 2022. ¹⁰ Grischina, J. A.: Das Tagebuch als Quelle für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. In: Krieg und Gesellschaft, Nr. 3, 2004, S. 45–58. ¹¹ Tazhidanova, I. G.: Kriegstagebücher als Quelle für das Alltagsleben. In: Historische Zeitschrift, Nr. 2, 2007, S. 112–125. ¹² Akhundova, S. E. / Osokina, A. S.: Sprache und Stil sowjetischer Kriegstagebücher. In: Literatur und Archiv, Nr. 1, 2008, S. 31–49. ¹³ Budnizkij, O.: Menschen im Krieg. Moskau: Rosspen 2001. ¹⁴ Prozhito – Zentrum für das Studium von Ego-Dokumenten. Europäische Universität St. Petersburg, Projektseite: https://prozhito.org ¹⁵ Tschekalow, N. W. (Hrsg.): Kriegstagebuch von W. I. Tschekalow. Moskau: Russische Humanitäre Gesellschaft, 2004. ¹⁶ Budnizkij, O. (Hrsg.): Wladimir Gelfand: Tagebuch eines Rotarmisten 1941–1946. Moskau: Nowoje Literator, 2015. ¹⁷ Gelfand, V.: Tagebuch eines Rotarmisten 1945–1946. Berlin: Aufbau Verlag, 2005 (Neuauflage 2008). ¹⁸ Kinder und Krieg. Tagebücher. 1941–1945. Moskau: Argumenty i Fakty, 2010. ¹⁹ Tatjana Lazerson-Rostowskaja. Die jüngste Häftlings des Kaunas-Ghettos. Tagebuch. Moskau: Vremja, 2009. ²⁰ P. N. Rebrin. Aufzeichnungen eines Soldaten. Fronttagebuch 1941–1945. Omsk: Verlag der Staatlichen Universität Omsk, 1999. ²¹ W. N. Petrow. Tagebuch der Kriegsjahre. Erzählung über die Liebe im Krieg. Sankt Petersburg: Iwan Limbach Verlag, 2018. ²² M. M. Rudnewa. Belagerungstagebuch 1941–1944. Sankt Petersburg: Nestor-History, 2012. ²³ Ich weiß, dass man so nicht schreiben darf... Belagerungstagebücher und Artikel darüber. Sankt Petersburg: Europäische Universität, 2022 (Reihe: Bibliothek „Proschito. Blockade“). ²⁴ Zentrum für die Erforschung von Ego-Dokumenten „Proschito“. Bibliografie veröffentlichter Belagerungstagebücher. URL: https://prozhito.org (Zugriff: Mai 2025). УДК 930ю25Э(476):025.45.05"192/193" |
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