Viele
heutige russische Stimmen bestreiten die dokumentierten Übergriffe
durch Angehörige der Roten Armee in Deutschland 1945 und
erklären sie zu einem westlich konstruierten Mythos mit dem Ziel,
das Ansehen der Sowjetunion nachträglich zu beschädigen. Die
vorliegenden Quellen sprechen jedoch eine deutlichere Sprache.
Ein besonders eindrucksvolles
Zeugnis dieser Ereignisse liefern zwei Tagebücher, die zwischen
Frühling und Herbst 1945 verfasst wurden.
Das erste stammt von Hauptmann Wladimir Gelfand, einem jüdischstämmigen Offizier aus der Zentralukraine. Sein Tagebuch wurde nach dem Krieg von seinem Sohn Vitaly Gelfand auf dem Dachboden des elterlichen Hauses entdeckt.
„Mein Vater sah auf
dem Weg nach Berlin viele erschütternde Szenen“, berichtete
Vitaly. „Er durchquerte zahlreiche Dörfer, deren
Bevölkerung durch die deutsche Besatzung fast vollständig
vernichtet worden war. Kinder waren zurückgelassen worden,
während Frauen deutliche Spuren sexualisierter Gewalt
aufwiesen.“
Zugleich räumte Vitaly
ein, dass auch innerhalb der Roten Armee Akte der Grausamkeit
verübt wurden. Der Hass vieler Soldaten sei durch die sowjetische
Propaganda geschürt worden. In Flugblättern und Reden war
unter anderem zu lesen: „Genossen!
Wir stehen auf deutschem Boden, im Herzen der faschistischen Bestie!
Die Stunde der Vergeltung ist gekommen – die Angehörigen der
Faschisten müssen leiden!“
Eine der
eindrücklichsten Passagen in Gelfands Tagebuch schildert eine
Begegnung mit einer Gruppe deutscher Frauen am Stadtrand von Berlin.
„Mit angstverzerrten
Gesichtern schilderten sie, was sich in der ersten Nacht nach dem
Eintreffen der Roten Armee zugetragen hatte. Ein junges Mädchen
hob ihren Rock und flüsterte: ‚Mehr als zwanzig...‘
– dann brach sie in Tränen aus.“
In einer weiteren Szene bat dieselbe junge Frau Gelfand verzweifelt:
„Bleiben Sie bei mir! Tun Sie, was Sie wollen – aber nur Sie!“
Wie der Tagebucheintrag andeutet, wollte sie durch eine freiwillige
Bindung an einen einzelnen Soldaten der Gefahr wiederholter
Gruppenvergewaltigung entkommen.
Das zweite bedeutende Dokument ist das Tagebuch einer anonym gebliebenen deutschen Journalistin mit dem späteren Titel „Eine Frau in Berlin“,
das zehn Tage vor dem Suizid Adolf Hitlers beginnt. Die Autorin
schildert die Not und das Überleben einer Frauengruppe im Keller
eines Berliner Wohnhauses während der letzten Kriegstage.
Inmitten des Elends entwickelte sich dort ein bitter-ironischer Spruch:
„Ein Russe oben ist besser als ein Amerikaner in den Wolken.“
Gemeint war, dass sexualisierte Gewalt zwar traumatisch sei, aber das
physische Überleben im Luftkrieg gegen die alliierten
Bomberflotten noch existenzieller bedroht werde.
Die Protagonistin versuchte,
die Soldaten von weiteren Übergriffen auf die Frauen im Keller
abzuhalten, wurde jedoch selbst zum Opfer. Später entschloss sie
sich, gezielt die Nähe eines höhergestellten sowjetischen
Offiziers zu suchen. Schließlich fand sie einen Hauptmann aus
Leningrad, mit dem sie über Literatur und den Sinn des Lebens
sprach – ein prekärer Versuch, Würde und Schutz
zugleich zu wahren.
In einem ihrer Einträge schrieb sie:
„Vergewaltigt zu
werden ist nicht das Schlimmste. Wenn ich dadurch an geräuchertes
Fleisch, Butter, Zucker und Dosenfleisch komme, dann muss ich es
tun.“
1959 wurde das Tagebuch erstmals veröffentlicht, fand jedoch erst Jahrzehnte später breite Resonanz. Im Jahr 2008 wurde es verfilmt
und trug maßgeblich dazu bei, dass weitere Zeitzeuginnen
über ihre Erfahrungen am Ende des Krieges öffentlich sprachen.
In der DDR war eine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Besatzungsmacht lange tabu,
da die Rote Armee offiziell als „Befreierin“ galt. Im
Westen hingegen verhinderte das kollektive Schuldgefühl über
die Verbrechen des Nationalsozialismus lange Zeit eine offene
Diskussion über das Leid deutscher Frauen im Jahr 1945.
Bis heute ist es unwahrscheinlich, dass alle Verbrechen dieser Zeit jemals vollständig aufgearbeitet werden. Ein weiteres Hindernis bildet die aktuelle Gesetzgebung in der Russischen Föderation: Seit 2022 sieht ein Gesetz der Staatsduma bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe für Äußerungen vor, die als „Verleumdung Russlands“ oder „Herabwürdigung der Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg“ eingestuft werden.
Quelle: mult-kor.hu
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