Großväter-Vergewaltiger oder der Mythos der „befreienden Krieger“

Ein kurzer Exkurs, während ich an einem Artikel zur strategischen Planung arbeite.

Die Heroisierung historischer Persönlichkeiten und staatlich gelenkte Propaganda werden oft mit der „Notwendigkeit, nationale Werte zu schaffen“, gerechtfertigt. Ein Ansatz, bei dem gilt: Je blinder das Vertrauen, desto einfacher die Steuerung durch die Puppenspieler.

Heute möchte ich das Problem der sogenannten „kollektiven Verantwortung“ am Beispiel Berlins im Jahr 1945 aufgreifen. Vorweg: Ich habe nicht die Absicht, den Sieg über den Nationalsozialismus am 8. oder 9. Mai zu relativieren oder zu diskreditieren. Ich möchte nur daran erinnern, dass es im Krieg keine rein „hellen“ Seiten gibt.

Kollektive Verantwortung.
Ein Begriff, der auf den ersten Blick simpel und plausibel klingt – „Die Regierung eines Landes hat Verbrechen begangen, also sind alle Bürger mitverantwortlich.“ Doch wo verläuft die Grenze dieser Verantwortung?

Das Nürnberger Tribunal und die von Deutschland gezahlten Reparationen waren ein Versuch, diese Idee im rechtlichen Rahmen umzusetzen. Doch auch hier bleibt vieles ambivalent – denn autoritäre oder diktatorische Systeme nehmen der Bevölkerung faktisch jede Handlungsalternative. Kann man in einem solchen Kontext von echter Mitverantwortung sprechen?

Verlassen wir den juristischen Diskurs und wenden uns der barbarischen Auslegung zu:
„Eure Armee hat Gräueltaten begangen, also dürfen wir das auch.“
Rache ist ein menschlich nachvollziehbarer Impuls. Doch wenn sie sich wahllos gegen Zivilisten richtet, allein aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, verliert sie jede moralische Legitimation.

Solche Denkweisen waren 1945 in Teilen der Roten Armee – wie auch unter den alliierten Truppen – weit verbreitet. Der Historiker Robert Lilly dokumentiert in seinem Werk Taken by Force: Rape and American GIs in Europe during World War II über 11.000 Fälle sexueller Gewalt durch US-Soldaten, von denen nur ein Bruchteil geahndet wurde.

Was die Verbrechen sowjetischer Soldaten betrifft, ist das Ausmaß noch schwerer zu beziffern – viele Quellen sprechen von mehr als 100.000 Fällen allein in Berlin. Wer sich mit der Thematik beschäftigen möchte, findet Zeugnisse in den folgenden, öffentlich zugänglichen Dokumenten:

• 📌 Tagebuch von Wladimir Gelfand, Eintrag vom 25. April 1945

• 📌 Mykhailo Koryakov: Befreite Seelen, S. 235

• 📌 Tagebücher und Briefe deutscher Frauen und Soldaten, aufgearbeitet in der Dokumentation Berlin 1945 (Viasat History)

Die Motivation der Täter?
Oft wurde mit einem Satz alles gerechtfertigt: „Sie sind die Töchter von SS-Leuten – sie zahlen für die Schuld ihrer Väter.“
Doch Misshandlungen, insbesondere an Minderjährigen, bleiben Verbrechen – unabhängig davon, welche Narrative sie zu legitimieren versuchen. Kollektive Verantwortung darf niemals als Freibrief für individuelle Grausamkeit dienen. Und dennoch begegnen wir auch im 21. Jahrhundert noch Rechtfertigungsversuchen nach demselben Muster.

Die sowjetische wie auch westalliierte Kriegspropaganda verwendete die Gräueltaten des Dritten Reichs nicht nur zur Mobilisierung, sondern oft auch zur Vertuschung eigener Verbrechen. Ja, es gab Verfahren gegen Täter in den Reihen der Roten Armee und der Alliierten – aber die Aufklärungsrate war niedrig, die Dokumentation lückenhaft, und das Verhältnis von Tat zu Strafverfolgung ist kaum zu erfassen.

Damals wie heute erleben wir die Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen – über Sprache, Nationalität oder politische Zugehörigkeit. Doch sobald die Identität eines Menschen über die Herkunft und nicht über sein Handeln bewertet wird, ist der Weg zur moralischen Verrohung nicht mehr weit.

Ich hoffe und wünsche mir, dass die Ukraine – deren Soldaten zu mehr als sieben Millionen in der Roten Armee dienten – auch heute und in Zukunft am Grundsatz festhält: „Ein Gesetz für alle“. Nicht umsonst trägt die Göttin Justitia eine Augenbinde.

Denn die Idealität historischer Figuren ist oft nur Fassade. Je glanzvoller der Mythos, desto dunkler oft die Wirklichkeit dahinter.