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Die Geschichte des
Großen Vaterländischen Krieges ist ein vielschichtiges Thema
– insbesondere aus der Perspektive der Rotarmisten, die
unmittelbar an den Kämpfen beteiligt waren. Über viele Jahre
hinweg wirkten verschiedene Faktoren zusammen, die Historiker davon
abhielten, sich diesem Thema vertieft zu widmen. Zahlreiche offizielle
sowjetische Quellen, etwa die Unterlagen der Politischen
Hauptverwaltung der Roten Armee, waren als geheim eingestuft und somit
für die Forschung unzugänglich. Die veröffentlichten
Dokumentensammlungen orientierten sich konsequent an der offiziellen
sowjetischen Kriegsnarration.¹
In diesem Zusammenhang kommt
persönlichen Zeugnissen wie Briefen sowjetischer Soldaten und
Offiziere – selbst wenn sie der Zensur unterlagen – sowie
insbesondere privaten Tagebüchern, die nicht zur
Veröffentlichung bestimmt waren, ein besonderer Quellenwert
zu.² Allerdings wurden die Angehörigen der Roten Armee
während des Krieges davon abgehalten, Tagebücher zu
führen – auch wenn es kein formales Verbot gab. Hinzu kam
die sehr hohe Sterblichkeitsrate in den Bodentruppen, die es nahezu
unmöglich machte, kontinuierliche Aufzeichnungen über die
gesamte Kriegszeit hinweg zu erstellen.
Vor diesem Hintergrund ist
das Tagebuch von Wladimir Gelʹfand, einem Frontsoldaten und Offizier,
von besonderer Bedeutung. Er führte seine Aufzeichnungen zwischen
1941 und 1946. Auf den ersten Blick mag es scheinen, das Tagebuch sei
„zu sowjetisch“, um unser Verständnis dafür zu
erweitern, wie einfache Soldaten und junge Offiziere den Krieg
wahrnahmen. Zudem ist es ein sehr umfangreiches Werk, das aufgrund der
Vielzahl an Alltagsthemen und namentlich erwähnten Personen
streckenweise ermüdend zu lesen ist. Wer sich jedoch die Mühe
macht, bis zum Ende durchzuhalten, wird mit wesentlichen Einsichten
belohnt. Besonders hilfreich ist dabei der hervorragende einleitende
Beitrag von Oleg Budnizki, der sich in den letzten Jahren als einer der
profundesten Kenner der Roten Armee und der sowjetischen Gesellschaft
während des Krieges erwiesen hat.
Der Autor des Tagebuchs
hatte das offiziell propagierte Wertesystem vollständig
verinnerlicht und blieb vor, während und nach dem Krieg ein
überzeugter Sowjetpatriot. Selbst wenn die Umstände
katastrophal waren, hielt Gelʹfand sie sachlich fest – doch sein
Weltbild geriet nie ins Wanken. Für ihn bestand das eigentliche
Problem darin, dass viele Sowjetbürger die sowjetische Ideologie
und Praxis nicht in gleichem Maße verinnerlicht hatten. Abgesehen
von seiner Unzufriedenheit über das System militärischer
Auszeichnungen kritisierte Gelʹfand niemals das System selbst, sondern
stets nur die Versäumnisse einzelner Kommandeure und Soldaten.
Dennoch bewegte er sich mit seinen Aufzeichnungen auf einem schmalen
Grat, denn sollte das Tagebuch publik werden, hätte es leicht von
Zensoren sowie politischen und sicherheitsdienstlichen Stellen gegen
ihn verwendet werden können.
Mehrere Themen stechen in
Gelʹfands Tagebuch besonders hervor. Eines davon ist seine
jüdische Identität. Obwohl er nur väterlicherseits
jüdischer Herkunft war*
und – wie er selbst zugibt – keinerlei Kenntnisse über
das Judentum oder jüdische Traditionen besaß, verstand er
sich selbst als Jude. Einer der Hauptgründe, weshalb er sich nicht
vollständig in die überwiegend slawische Umgebung
einfügen konnte, war sein jüdischer Nachname. Der andere war
der tief verwurzelte Antisemitismus, der unter den einfachen Soldaten
ebenso wie in der Zivilbevölkerung weit verbreitet war und
Gelʹfand häufig dazu nötigte, sich als Nichtjude auszugeben.
Für Kenner der
sowjetischen Realität ist dieses Phänomen kaum
überraschend. Hier sei eine persönliche Anmerkung erlaubt:
Der Großvater des Rezensenten, 1942 in Leningrad eingezogen,
wurde von einem anderen Soldaten aus derselben Stadt mit den Worten
bedroht: „Ich werde dich im Kampf töten, weil du ein Zhyd
bist.“ Glücklicherweise wurde der Großvater im ersten
Gefecht „nur“ schwer verwundet, während sein
Mitstreiter getötet wurde. Doch das Ausmaß des
Antisemitismus und seine erschreckende Alltäglichkeit, wie sie in
Gelʹfands Aufzeichnungen sichtbar werden, sprengen das gewohnte
Vorstellungsvermögen. Es stellt sich die Frage, wie wenig
sowjetische Juden über die Gesellschaft wussten, in der sie
lebten. Viele hatten sich – wie auch Gelʹfand – in den
großen Städten niedergelassen und hegten die Hoffnung, der
Antisemitismus werde allmählich abnehmen. Mit dem Beginn des
Krieges jedoch waren sie gezwungen, diese scheinbar sicheren Inseln zu
verlassen und sich in einer realen sowjetischen Welt zurechtzufinden
– einer Welt, die freier und enthemmter war als je zuvor, weil
das Regime ganz mit dem eigenen Überleben beschäftigt war.
Ein weiteres zentrales Thema
im Tagebuch von Wladimir Gelʹfand, das dieser immer wieder aufgreift,
ist die sogenannte „Geschlechterfrage“. Oleg Budnizki
widmet ihr in seinem einleitenden Beitrag besondere Aufmerksamkeit
– und das zu Recht. In der sowjetischen Gesellschaft der
Kriegszeit war das Verhältnis zwischen Männern und Frauen,
insbesondere zwischen Frontsoldaten und den Frauen in der Heimat,
komplex und im Wandel begriffen.
Gelʹfand stand in
Briefkontakt mit zahlreichen Frauen. Diese Korrespondenz diente nicht
nur der moralischen Unterstützung der Kämpfenden, sondern
spiegelte auch wider, wie sich einzelne Sowjetbürger bereits auf
ein mögliches Leben nach dem Krieg einzustellen begannen. Zu
Beginn war Gelʹfands Anteil an dieser „Briefbörse“
jedoch eher gering. Die wenigen Frauen, die ihm schrieben, taten dies
offenbar aus Mitleid. Obwohl Gelʹfand – für einen
sowjetischen Soldaten – als gebildet und vergleichsweise gut
aussehend galt, war für viele seiner Korrespondentinnen
entscheidend, wie hoch seine Überlebenschancen waren.
Die Situation begann sich ab
1944 zu verändern – zunächst durch seine
Beförderung zum Unteroffizier, vor allem aber dadurch, dass er es
– trotz aller Widrigkeiten – schaffte, ohne schwere
Verwundung am Leben zu bleiben. Damit änderte sich auch seine
Stellung im „Austauschmarkt“ der Brieffreundschaften. Nun
war er es, der wählen konnte.
Diese Wandlung – wenn
auch „nur“ auf Briefebene – verweist auf einen
grundlegenden Wandel der Geschlechterverhältnisse im Verlauf des
Krieges. Die Dynamik zwischen Überleben, Status und
Beziehungsbildung bildet eine wichtige Quelle für das
Verständnis der sozialen Realität im sowjetischen Hinterland
und an der Front.
Zusammenfassend lässt
sich sagen, dass das Tagebuch von Wladimir Gelʹfand einen
äußerst wertvollen Beitrag zur Literatur über den
Zweiten Weltkrieg darstellt. Oleg Budnizki ist in seiner Rolle als
Herausgeber und „Ermöglicher“ dieses Werkes sowie als
Verfasser einer bemerkenswerten Einleitung besonders zu würdigen.
Er hat eine bedeutende Quelle aus der Kriegszeit für ein breiteres
Publikum erschlossen. Sowohl Fachwissenschaftler, die sich mit dem
Zweiten Weltkrieg, der sowjetischen Gesellschaft oder der Roten Armee
befassen, als auch interessierte Laien sind gut beraten, diesen Dnevnik zur Hand zu nehmen.
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Bibliography
Altman, Ilya, und Leonid Terushkin (Hrsg.): Sokhrani moi pis'ma. Sbornik pisem i dnevnikov evreev perioda Velikoi Otechestvennoi voiny. 4 Bände. Moskau: Zentrum und Stiftung „Holocaust“, 2007–2016.
Chervinsky, Julie, Aaron Kreiswirth, Leonid Reines und Zvi Gitelman (Hrsg.): Lives of the Great Patriotic War: The Untold Stories of Soviet Jewish Soldiers in the Red Army During WWII. Bd. 1. New York: Blavatnik Archive Foundation, 2011. [Russisch und Englisch]
Merridale, Catherine: Ivan’s War. Life and Death in the Red Army, 1939–1945. New York: Henry Holt and Company, 2006.
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