Es gibt so viele gute Dinge im Leben:
Die Stimme der Tochter, wieder Frühling,
Ein Haus mit einer mondbeschienenen Veranda,
Der klare, blaue Himmel,
Ein Buch, das noch nicht gelesen ist,
Ein Blick, der wärmer nicht sein könnte,
Sterne, verstreut wie Diamantenstaub
Entlang schattiger Pappelalleen.

So viel Musik liegt in den Farben des Herbstes,
Wenn man Laub zusammenharkt – und dabei eine Antwort findet,
Wenn man auf den Grund eines stillen Sees taucht,
Um eine silberne Spur zu legen.

Die Dunkelheit ist nur ein Mangel,
Der Wolkenkratzer ein nach oben wachsender Wald,
Nur ein Wunsch, an den man sich erinnert...

Nach dem Himmel zu greifen,
Erstaunt über das luftige Klingen –
Und zu wissen: Die Wolke ist nur Wasser.

Du bist wie ein Wolkenkratzer – ausdauernd,
Strebst in ein Nirgendwo.

Der erste Atemzug, der erste Schrei, der erste Schritt,
Der erste Schnee, der erste Daunenschal.

Du hättest so beginnen können:
„Es gibt so viele schlechte Dinge im Leben“...
Aber du hast es nicht getan.

„Das Radio sendet jeden Tag Nachrichten – eine schlimmer als die andere. Gestern haben die Deutschen Wjasma eingenommen, vorgestern Gorjansk, und heute – oh Schreck! – Mariupol. Wie lange soll das noch so weitergehen? Wie wird diese neue Offensive enden? Wo sind die Briten, wo die Amerikaner? Oder sind auch sie machtlos? Doch die Fakten sprechen dagegen. ‚Aber... wann?‘ – sagt Tante Paula mehr als einmal, und ich stimme ihr zu. Wie viele Menschen werden sterben, wie viel Territorium wird vom Faschismus verschlungen, bevor es wesentliche Hilfe aus England und Amerika für unser Land gibt?“

Guten Tag, liebe Radiohörer. Hier ist Valeria Korennaya. Am Tonpult: Akmal Tokhirov. Ich habe die Sendung mit meinem Gedicht „Es gibt so viele Dinge im Leben...“ begonnen. Und dann kam ein Ausschnitt – nein, nicht aus der Gegenwart, obwohl er aus dem Zweiten Weltkrieg stammen könnte.

Hat sich seitdem nichts geändert? – fragen Sie vielleicht. Doch. Aber in welchem Jahrhundert leben wir? Auf welcher Stufe der Grausamkeit steht die Menschheit – und stehen einige ihrer Vertreter – heute?

Ich spreche heute nicht mit Ihnen, sondern mit Wladimir Gelfand, einem sowjetischen Armeeoffizier, über sein einzigartiges Tagebuch, das er von 1941 bis 1946 geführt hat. Eine solche Offenheit, mitunter schockierend, findet sich in keinem anderen Kriegsdokument. Alles ist darin miteinander verwoben – Granateneinschläge, furchtbare Bedingungen, der Tod, die Liebesqual des jungen Gelfand, der die Liebe schmeckt und nicht weiß, was er damit anfangen soll – auch nicht mit der Liebe zu deutschen Frauen. Bomben werden irgendwann zum Hintergrund, Läuse fressen einen lebendig.

Der Autor marschierte durch Polen, erreichte Berlin, hinterließ ein Gedicht auf dem Reichstag, wurde jedoch erst ein Jahr nach dem Sieg demobilisiert. Gelfand veröffentlichte Fragmente seiner Kriegserinnerungen – mit Selbstzensur. Die Originalzeilen, die er 1945 auf dem Reichstag hinterließ, zitierte er nie: „Ich schaue und spucke auf Deutschland, auf das besiegte Berlin spucke ich!“ Stattdessen setzte er ein entschärftes: „Seht, hier bin ich – der Sieger von Deutschland. In Berlin habe ich gesiegt!“

Zum ersten Mal wird in seinen Tagebüchern deutlich die Moral der Roten Armee beschrieben – jener Armee, die in der offiziellen Erinnerung stets verherrlicht wurde. Und doch offenbart Gelfand etwas Unglaubliches, worüber man gewöhnlich nicht spricht. Es ist zumindest ungewöhnlich, über die fürsorgliche Beziehung zwischen männlichen Siegern und weiblichen Besiegten, den Deutschen, zu lesen. Sein Tagebuch erschien erstmals 2005. Ein Jude ukrainischer Herkunft schreibt über Plünderung, Tod und Verrat in Deutschland. Er schildert Gewalt und Vergewaltigung deutscher Frauen.

Er beschreibt, wie er selbst gedemütigt wurde, spricht von seinen eigenen unsauberen Handlungen, sexuellen Problemen und „Triumphen“ – ohne etwas zu verschweigen. Dieses Tagebuch ist das einzige Dokument, das das Leben eines Rotarmisten im besetzten Deutschland derart unverblümt darstellt. Seine Offenheit erklärt, warum dieses Tagebuch in der Sowjetunion nicht erscheinen konnte.

Der Sohn von Wladimir Gelfand fand das Tagebuch, als er 1983 nach dem Tod seines Vaters dessen Nachlass sichtete. Gelfand war nur 60 Jahre alt geworden. Doch mit seinem Tagebuch wurde er so berühmt, wie er es sich gewünscht hatte – und wie er es leidenschaftlich gewollt hatte.

Wladimir Gelfand wurde 1923 im Gebiet Kirowohrad in der Zentralukraine geboren, als einziges Kind einer armen jüdischen Familie. Seine Mutter wurde in den 1920er-Jahren wegen „Passivität“ aus der Partei ausgeschlossen – was seine Karriere verhinderte, ihn aber vor Repressionen bewahrte. Sein Vater, Natan Solomonowitsch Gelfand, arbeitete in einem Zementwerk in Dneprodserzhinsk und trat nie in die Partei ein. Die Eltern trennten sich, als Wladimir noch zur Schule ging.

Bei Kriegsausbruch war er 18 Jahre alt, hatte bereits vier Kurse an der Arbeiterfakultät abgeschlossen, arbeitete als Elektriker – und meldete sich im Mai 1942 freiwillig zur Armee, obwohl er einen Vorbehalt hatte. Er besuchte eine Artillerieschule, wurde Unteroffizier, dann Kommandeur einer Mörsergruppe, schließlich stellvertretender Zugführer für politische Arbeit und absolvierte die Infanterieschule.

Schreiben durfte man nicht. Und das Führen von Tagebüchern war in der Armee verboten. Aber Leutnant Wladimir Gelfand setzte sich mutig über dieses Verbot hinweg.

September 1941:

Heute ist es genau ein Monat her, seit ich Dnepropetrowsk verlassen habe. Meine Stadt – die Stadt der Parks, die schöne Stadt – wurde bombardiert: der erste Luftangriff seit Beginn des Krieges. Ich sah die Zerstörung und den Rauch mehrerer Brände, die durch die Bombardierung ausgelöst wurden. Man berichtete von vielen Toten und Verwundeten am Bahnhof, von zurückgelassenen Waisenkindern. Die Stadt leerte sich allmählich, die Einwohnerzahl nahm mit jedem Tag ab. Es schien absurd, dass die Menschen aus der Stadt flohen...

Einige Tage später:

Ich weiß nicht, wie man weint. Kein Kummer, keine Trauer scheint mich zu Tränen zu rühren. Umso schwerer ist es, wenn man ein Familienmitglied weinen sieht. Ich hielt sie, die arme Mutter, an mein Herz und tröstete sie so lange, bis sie aufhörte zu weinen.

– Du Nichtsnutz, du wolltest deiner Großmutter nicht einmal ein Brot bringen. Du verbringst den ganzen Tag mit Lesen und Radiohören. Ich antwortete, ich erzählte, ich erklärte – doch sie unterbrach mich, ließ mich nicht zu Wort kommen und zwang mich, lauter als gewöhnlich zu sprechen.

– Warum schreist du mit einer Stimme, die nicht deine eigene ist? – unterbrach mich meine Mutter, ihr Gesicht vor Zorn verzogen. Für mich war sie noch immer dieselbe alte Mutter, aber... Alte Fotos und Bilder unseres langen gemeinsamen Lebens tauchten in meinem Inneren auf. Ich geriet in einen fiebrigen Zustand. Das Gesicht meiner Mutter erschien mir so fremd und abstoßend wie in jenen Momenten, die ich längst vergessen hatte – als sie bei unseren Streitereien mit Stühlen, Schürhaken oder Hämmern geworfen hatte. Ich erinnerte sie an den Inhalt ihrer Briefe, in denen sie erneut über meinen Vater geschimpft hatte.

– Dein Vater ist böse und kleinlich, und seine Familie sind gute Menschen – ich habe nichts gegen sie...

6. Mai 1942:

Heute fand ein entscheidendes Ereignis in meinem Leben statt – ich wurde zur Armee eingezogen...

Einige Tage später:

Der Diebstahl grassiert überall, offen und hemmungslos.

22. Juni 1942:

Heute jährt sich der Krieg zwischen unserem Land und den deutsch-faschistischen Halunken. Dieses bedeutende Datum fällt mit dem ersten heftigen Angriff auf diese Gegend zusammen. Ich schreibe im Unterstand. Die Angriffe dauern noch immer an. Haustov, mein Kamerad, ist vollkommen verwirrt und hat sich vor Angst krank gefühlt. Er erbricht, seine Hände zittern, sein Gesicht ist verzerrt. Anfangs versuchte er, seine Angst vor den Bomben zu verbergen, aber nun gesteht er offen, dass er es nicht mehr aushält – seine Nerven und sein Herz versagen. Noch gestern hatte er mich beschimpft und gesagt, ich sei ein „Käsefresser“, der sich beim ersten Gefecht in die Hose mache und ihn im Kampf verrecken lasse. Nun aber... Ich bin verloren in meinem Wunsch, mit ihm zu sprechen, in meiner Sehnsucht, in meinen Träumen – mit diesem Mann, der sich mir vollkommen verweigert, der mir entgegenhält: Sie können mich jetzt erschießen – ich werde Ihnen nicht gehorchen!

28. Juni 1942:

Ich muss in den Einsatz. Mein Leitspruch: Mut oder Tod. Lieber der Tod als die Gefangenschaft. Mein Leben soll vom Schicksal bewahrt werden. Es ist meine Aufgabe, mir Unsterblichkeit zu verschaffen. Ich werde ohnmächtig, wenn ich mich in den Finger schneide und nur ein kleines Rinnsal Blut sehe. Der Anblick von Toten war mir stets zuwider. In Kämpfen wurde ich immer besiegt. Und nun träume ich von der Heldentat – ich warte darauf, ja mehr noch: ich sehne mich danach! Ich werde sie vollbringen, auch wenn es mich das Leben kostet – andernfalls bin ich kein Mann, sondern ein Feigling und Angeber. Ich schwöre dir, mein Tagebuch, nicht ein grauer, unauffälliger Soldat zu sein, der sich in der Masse der Rotarmisten verliert, sondern ein berühmter, strahlender – oder wenigstens ein anerkannter – Held des Vaterlandes zu werden...

Moskitos lassen einen nicht leben – sie saugen das Blut, verwirren die Gedanken und bringen einen mit ihrem Summen und ihrer Masse in Rage.

2. Juli 1942:

Der Leutnant erlaubte mir, mich auf Nahrungssuche zu begeben. Es stellte sich heraus, dass die Bewohner entweder evakuiert oder, offen gesagt, gewaltsam vertrieben wurden. Seit drei Tagen beobachte ich ein schreckliches Bild: zerbrochene Fensterscheiben verlassener Häuser, vernagelte Fensterläden und Türen, Federn und Köpfe frisch geschlachteter Hühner, nackte Kinder und Frauen, die von den unaufhörlichen Schreien wütender Mütter geschlagen werden. Die Kühe, so sagt man, wurden fortgeführt – ohne Quittung. Eine Frau, die sich weigerte, ihre Kühe herauszugeben, wurde von einem Leutnant angeschossen und in den Bauch getroffen. Sie liegt nun im Sterben. Niemand unternimmt den Versuch, sie zu retten. Dorfbewohner berichten, dass ihre Hühner, Gänse und anderes Vieh wahllos und gewaltsam von unseren Soldaten und Kommandanten beschlagnahmt werden.

Vorgestern fing ich in der Nähe eines Dorfs ein lebendiges Huhn und aß es – ich spuckte Federn und Flusen aus, bis mir übel wurde. Noch immer ist mir schlecht und schwindlig...

Irgendwo in der Nähe schießen Kanonen und Mörser auf uns. Granaten und Minen explodieren in unmittelbarer Nähe, Splitter fliegen sogar in die Schützengräben. Das Dorf ist verwüstet. Viele Tote – Menschen und Tiere – liegen auf der Straße. Die Bewohner haben sich zerstreut... Wir wissen, wofür wir kämpfen, und deshalb ist unser Blick schärfer als der der Deutschen, unsere Granate präziser, unsere Kugel nicht so dumm wie in deutscher Hand...

Und nun zu den Dingen. Ich bin völlig ruiniert, bestohlen worden: Der Teekessel, den der junge Politoffizier schon lange begehrte, zwei Stück Seife, zwei Schachteln Streichhölzer, ein Paar Unterwäsche, eine Hose. Der Kompass – mein einziges äußeres Zeichen der Gleichberechtigung unter Leutnants und Kompaniechefs – ist fort. Vor allem aber wurde mir das literarische Material genommen, das für mich der einzige Trost war – jene Welt, in die ich vollkommen eintauchen konnte und in der ich für eine Weile alle Bitterkeit und Härte des Armeelebens vergessen durfte...

An diesem Abend sprang ein Frosch in meine Suppe – ich biss ihn mitten durch und hätte ihn beinahe gegessen...

Die riesigen, mehrstöckigen Gebäude waren nur noch halbe Skelette, die nichts von ihrem früheren Vorkriegscharme bewahrt hatten. Die Straßen, die die Menschen vor dem Einmarsch der Deutschen in Staunen versetzt hatten, waren nun mit Schlaglöchern übersät und entstellt. Von vielen Gebäuden war nur noch eine Spur übrig: Betten, Kessel, Samoware, Ziegelbruchstücke und ähnliche Reste. Einige wenige Bauten hatten wie durch ein Wunder überlebt und rauchten nun in ihren viereckigen Schachteln. Das verlieh dem Bild dieser toten, einst so großen und lebendigen Stadt einen Hauch von Leben.

Durch die Stadt zogen Gruppen von Kriegsgefangenen – schmutzig, elend, Deutsche und Rumänen –, die verschiedene Lasten auf Kinderwagen und Karren transportierten. Ihnen folgte ein einsamer Konvoi. Unter den Trümmern lagen durchnässte Bücher unserer Klassiker, deutsche Bücher, Kleidungsstücke und Bürsten aller Art. An einer Stelle fand ich zwei Seifenstücke – sie waren nicht geschmolzen und hatten überlebt. An einer anderen lag ein deutscher Atlas, in dem die Sowjetunion fehlte – offenbar herausgerissen. Feuerzeuge, Messer, Schokolade – unsere Soldaten hatten davon genug. Ganze Ballen von Schokolade und Lebensmitteln waren den Deutschen abgenommen worden. Man nahm ihnen einfach alles weg und hängte es sich über die Schultern. Uhren und alles, was sie wollten, wurde ihnen abgenommen.

Die Offiziere verhielten sich auch in der Stunde ihrer Gefangennahme arrogant, und Feldmarschall Paulus weigerte sich, mit einem Leutnant zu verhandeln. Er verlangte, mit einer höherstehenden und geistesgegenwärtigeren Person zu sprechen.

Als Abschiedsgeschenk überreichte man mir eine rumänische Klappgabel mit Löffel – jetzt habe ich einen Löffel als Ersatz für den, der mir im Lazarett aus dem Mantel gestohlen wurde.

Die Zivilbevölkerung lebt noch nicht wieder in Stalingrad, aber die Menschen laufen bereits durch die Stadt, tragen Dinge, schleppen Säcke und Taschen – Frauen und Jungen. Sie leben in den Außenbezirken. Die Straßenbahnen fahren nicht, die Kraftwerke sind zerstört, und die Gleise sind an vielen Stellen zerrissen.

Die Vermieterin sprach über die Deutschen. Sie lebten hier wie in den Dörfern, durch die ich zuvor gezogen war. Fünf Deutsche. Alte Männer und Frauen bekamen Brot umsonst, die Jungen wurden zur Arbeit gezwungen. Die Bewohner wurden nicht getötet, aber man nahm ihnen alles, was man wollte. Es gab Zeiten, in denen die Rumänen plünderten. Besonders die Zigeuner, von denen es hier viele gab, wurden ausgeraubt. Für jeden getöteten Deutschen wurde ein Einwohner erschossen – ob schuldig oder unschuldig. An Partisanen war hier also nicht zu denken. In der Nähe der Doppelstation verschworen sich ein paar Männer und schossen einem Deutschen zum Spott mit einem Revolver ins Bein. Das ganze Dorf, in dem dies geschah, wurde von den Faschisten niedergebrannt, und die obdachlos gewordenen Bewohner wurden nach Deutschland verschleppt. Es war gut, dass man die Einwohner rechtzeitig gewarnt hatte, sonst wären sie alle umgekommen. Die Juden wurden restlos abgeführt – selbst einjährige Kinder wurden erschossen.

März 1943:

Es gab nirgendwo Salo, nur an einem Ort traf ich eine Händlerin – offenbar die Besitzerin dieses Basars. Sie schnitt etwa 400 Gramm ab, entschied dann, dass es zu viel sei, trennte 100 Gramm wieder ab und bot mir an, den Rest gegen Unterhosen zu tauschen. Ich wollte ihr am liebsten ins Gesicht treten, zumal sie sagte, die Deutschen nähmen den Bauern den Speck einfach weg, ohne zu fragen. Und sie wollte einen Soldaten um ein Stück Schmalz betrügen. Doch ich ließ mich nicht beirren und tauschte meine Unterhose gegen 300 Gramm Schmalz.

Als ich von dort ins Zentrum ging, traf ich eine Frau, die zwei schwere Säcke trug. Sie schleppte einen ein Stück weit und kehrte dann zurück, um den anderen zu holen – das kostete sie viel Zeit und Kraft. Ich bot ihr meine Hilfe an. Sie wohnte nur zwei oder drei Häuserblocks entfernt. Als ich ihr einen der Säcke brachte, holte sie ein Brot aus dem Sack und schnitt mir ein Stück davon ab – etwa 300 Gramm.

1943:

In diesem Jahr erfuhr Gelfand, dass fast alle seine Verwandten väterlicherseits – seine Großmutter, sein Onkel, zwei Tanten und zwei Cousins – bei der Vernichtung der Juden in Jessentuki getötet worden waren. Nur sein Vater und dessen Bruder überlebten.

Es gelang ihm, den Kontakt zu seiner Mutter wiederherzustellen, die nach Zentralasien evakuiert worden war. „Meine Mutter ist nervös und hart“, schrieb Wladimir. „Selten konnte sie mir jene Zärtlichkeit schenken, nach der ich mich sehnte, fast immer war sie schroff und kalt. Mein Herz fühlte ihre Liebe – heiß und zart –, aber mein Verstand wollte sie nicht annehmen. Auch in meiner Kindheit wurde ich nicht mit Wärme überschüttet, doch damals begegnete ich meiner Mutter nicht mit Kälte und Härte – meine Liebesgefühle überwogen alles andere, und so vergaß ich bald die wilden Schläge (manchmal mit dem Kopf gegen die Wand), die beißenden Vorwürfe und den vollständigen Boykott mit allen Mitteln.“

Oktober 1943:

Alle denken wenig an mich und meine Kameraden, lassen mich oft ohne Essen zurück. Gestern etwa wurde ich fast allein gelassen, als ich den Standort der Kompanie wechselte und hier ankam. Jeder kümmert sich nur leidenschaftlich um sein eigenes Essen und ist völlig mit seinen persönlichen Interessen beschäftigt. Die anderen – selbst wenn sie alle gestorben sind – interessieren niemanden. Was sind das nur für Menschen auf dieser Welt geworden...

November 1943:

Ich habe seit sieben Tagen keinen Brief mehr geschrieben. Mir fehlt der Antrieb, wenn ich keine Antwort erhalte. Das war’s! Der Boden bebt. Überall gibt es Risse, doch hier ist es noch nicht angekommen. Was soll’s – was geschehen soll, wird geschehen! Ich werde meinen Stift nicht aus der Hand legen, nur weil die Deutschen ungeduldig geworden sind, nervös werden, hier und da schießen, Feuerüberfälle auf uns verüben...

Meine Stiefel sind zu eng, aber ich habe keine Valenki bekommen. Eine warme Hose habe ich ebenfalls nicht. Unterwäsche ist versprochen. Die Soldaten erhalten bereits Winteruniformen – darunter wattierte Hosen und Latzhosen. Schuhwerk – Filzstiefel – hat bisher noch niemand erhalten. Meine Füße, die ich mir im Winter ’42 in Stalingrad erfroren habe, sind wie taub vor Kälte.

Ich träume von einem süßen Mädchen und glücklicher Liebe. Vor meinen Augen sehe ich zarte, glatte Mädchenbrüste – so weit und ursprünglich, dass man in ihnen versinken kann und Kummer und Not vergisst...

Am Wegesrand liegt eine solche Masse an verlassenem Kriegsmaterial und deutschem Eigentum, dass man es sich kaum vorstellen kann. Es gibt niemanden, der nicht zumindest ein Stück Trophäengut abbekommen hätte. Ich fand eine ganze Tafel voller deutschen Papiers, Briefumschlägen, Bleistiften und Postkarten, Seife, einen Rasierapparat, eine Decke und anderes. Einige hatten Uhren, deutsche Hosen, Latzhosen, warme Decken, Waffen oder anderes...

Die ganze Nacht über habe ich Rudnew zugehört. Er kennt schöne Liebeslieder. Ich erinnerte mich an mein ziviles Leben, wie man hier sagt, und beim Klang des Liedes bedauerte ich meine Jugend – die nie Liebe und Zärtlichkeit einer Frau erfahren hatte...

In Leningrad schießen die Deutschen mit Minen auf Wohnviertel, die keinerlei militärische Bedeutung haben. Auf barbarische Weise beteiligen sie sich an dieser Scheußlichkeit. Sie werden zu gegebener Zeit für alles bezahlen. Meine Verwandten, die durch die Hand der Barbaren ums Leben kamen, stehen mir ständig vor Augen, und mein Gewissen ruft mich auf, Rache zu nehmen – unerbittlich, und mit Recht...

Dezember 1943:

Es schneit. Weich, flauschig, in großer Menge. Der Winter hat begonnen. Doch draußen – das heißt, außerhalb meines Unterstandes – ist es warm, und der Schnee schmilzt. Es ist sehr matschig, und das gefällt mir nicht. Ich hätte lieber ein wenig Frost auf dem Weg. Heute habe ich im Badehaus gebadet und meine Wäsche gegen Läuse ausgekocht.

Die Deutschen griffen letzte Nacht erneut an und drängten uns etwas zurück. Doch am Morgen vertrieb sie die Artillerie. Dabei verloren sie etwa 300 Mann. Auch am Nachmittag lagen viele Verwundete und Tote im Niemandsland – die Deutschen konnten sie nicht bergen.

Heute habe ich acht Deutsche gefangen genommen. Am ersten Tag der Offensive sah ich einen verwundeten Deutschen – eine „Zunge“. Er verfluchte Hitler. Jetzt beginnen sie es zu begreifen! Er wurde verbunden und von unserem eigenen Verwundeten ins Hinterland gebracht...

Gestern erhielt ich wieder einen Brief von meiner Mutter. Sie schreibt, dass sie Valenki bekommen hat.

Das Damoklesschwert hängt ständig über uns. Überall um uns herum – mal fern, mal ganz nah – zersplittern Granaten und Minen. Nur ein Wunder hat mich bisher vor dem Tod bewahrt.

Am Abend wurde der junge Leutnant Kolmagortzew, ein fröhlicher und tapferer Offizier, getötet. Er hatte versucht, die Leiche des Oberleutnants Petrow zu bergen. Dabei trug er viele Trophäen bei sich: goldene deutsche Uhren, drei Damenuhren, Zigarettenetuis, Ketten, zwei Revolver und vieles mehr. Vier Mann trugen die Leiche, doch plötzlich explodierte eine Mine. Die Explosion tötete Kolmagortzew und einen weiteren Kämpfer, die anderen beiden flohen zu einem anderen Bataillon. Die Pioniere sagen, dass die Leiche Petrows von den Deutschen vermint worden war – sie liegt nun ungeborgen da. Die Minen sollen heute Nacht beseitigt werden...

Gestern Abend wurden Valenki verteilt. Die Soldaten haben mir ein Paar besorgt – aber ich trage Größe 39 und erhielt Größe 42...

Januar 1944:

Ich bin jetzt ein wenig betrunken – habe drei Gramm getrunken. Meine Augen sind schwer, sie haben sich irgendwie verengt, mein Kopf ist schwer und sinkt zur Schulter. Schalit – er fällt nicht, ich lasse ihn nicht fallen! Ich erinnere mich, dass ich gestern sechs Briefe bekommen habe, aber keinen von meiner Geliebten. Wo ist diese Geliebte? Irgendwo in den Wolken, vor ihrem geistigen Auge... Aber sie ist so schön, so klug... Ach, ich pfeife auf den Krieg und auf die Deutschen! Oh, geliebtes, schönes Mädchen – bitte komm und umarme mein Herz, es ist trocken, armes Ding...

Drei Tage lang bekamen wir kein einziges Stück Brot in den Mund. Am zweiten Tag schlachteten wir ein Pferd, das zuvor von den Deutschen erschossen worden war, und versorgten eine sterbende Stute, die durch eine Granate verwundet worden war. Den ganzen Tag aßen wir Pferdefleisch und ein wenig rohen Mais. Dann entdeckten wir in einem Haus versteckte Kartoffeln und aßen auch davon. Die Deutschen hatten im Dorf keinen einzigen Menschen am Leben gelassen – nur die Hunde. Es war das erste Mal, dass niemandem die Flucht gelungen war, dass keiner im Dorf überlebt hatte – ganz zu schweigen von Vieh oder Geflügel. Die Häuser standen unversehrt. Hinter dem Dorf: ein Maisfeld.

Gerade eben ist eine Granate ganz in der Nähe eingeschlagen, und ich habe mich noch nicht einmal eingegraben. Und mein Zahn schmerzt so sehr, dass ich kaum noch weiß, wohin damit. An meinem Mantel, an den Stiefeln, an den Händen, am ganzen Körper und an der Kleidung klebt der Schlamm – scheinbar für die Ewigkeit. Unter diesen Umständen lässt er sich nicht entfernen. Er hat sich während der ganzen zehn oder noch mehr Tage des Vormarsches, der Gefechte und der Verfolgung des Feindes angesammelt. Wir trinken Wasser aus Pfützen – schlammig und geschmacklos. Sand setzt sich auf unseren Lippen ab, knirscht zwischen den Zähnen...

Wir sahen Mädchen, die den deutschen Müll aus den Unterständen einsammelten – Besen, Fibeln, Töpfe –, alles, was die Deutschen zurückgelassen hatten.

Heute fand man die Leiche von Oberleutnant Kijan am Rande des Orts. Die Deutschen hatten ihn offenbar als Verwundeten zurückgelassen und dann erschossen. Welch ein Grauen! Welch eine Schande – und welch ein Vorwurf an all jene kleinen, armseligen Leute, die ihn nicht mitgenommen haben, die ihn nicht vom Schlachtfeld trugen. Wahrscheinlich waren sie des Oberleutnants insgesamt nicht würdig.

Ja, diese Menschen lieben es, Titel und Auszeichnungen zu erhalten – aber sie sind ebenso bereit, einen Freund, einen Kameraden, ja selbst einen befehlshabenden Offizier im Stich zu lassen, in Tod und Folter zu stoßen, nur um ihre eigene Haut zu retten. Sie verbrennen die Briefe ihrer Mitstreiter, tauschen deren Habseligkeiten, sobald diese nur kurz ausfallen. Zu allem sind sie fähig. Nur wenige Menschen sind heute, vor allem in Kriegszeiten, bereit, sich selbst aufzuopfern, um ihre Liebsten – oder überhaupt bekannte Menschen – zu retten. Die meisten aber sind kleinlich und voller animalischer Triebe...

An der Front sah ich den stellvertretenden politischen Kommandeur. Er schien mir kein schlechter Mensch zu sein. Seine junge Frau schläft mit ihm – was für ein Glückspilz! Selten hat man das Glück, mit der eigenen Frau an der Front zu sein...

März 1944:

Am Nachmittag habe ich mit einem Bügeleisen Läuse in meiner Kleidung gebraten. Sie platzten auf und glänzten fettig in den Falten meines Hemdes. So viele waren es! Ich hielt es nicht mehr aus, sie zu bekämpfen. Ich zog mich mitten hinein, zog meine Kleidung wieder an – es wurde ein wenig erträglicher...

Wie im Rausch rasten drei Pferde mit der Feldküche davon, galoppierten die Straße entlang. Die Granaten schlugen ein, immer weiter, und schürten ihre Panik. An einer Stelle lief ein graues Pferd noch immer umher – verzweifelt. Es wusste nicht, wo es anhalten sollte, strampelte wild und schrie. Die Menschen fuchtelten in Angst und Aufregung mit den Armen – ihre Augen weit aufgerissen. Es war ein grauenhafter Anblick.

Am Abend ging ich zur Versorgungseinheit. Man gab mir Brot – es gab nichts anderes: 800 Gramm für zwei Tage. Wir litten an Nahrungsmangel. Zum Abendessen gab es Maissuppe – fettfrei, widerlich, aber es gab keine Alternative. Die Morgendämmerung war grau und kalt, doch die Läuse störte das nicht – ihnen war warm, sie waren satt. Heute Abend werde ich ihnen den Vaterländischen Krieg erklären! Auch sie sollen die Schrecken und Ängste des Krieges zu spüren bekommen...

Mein Finger tat immer mehr weh. Es war kaum noch auszuhalten. In der Sanitätsstation stellte man fest, dass es ein zweites Panaritium am selben Finger war – ich musste erneut operiert werden, mit einem noch größeren Schnitt als beim ersten Mal...

Das Wetter heute ist feucht und trüb. Am Morgen fiel Schnee, jetzt nieselt es. Und die Hausbesitzer sind so freundlich! Sie haben mich rasiert, gewaschen – sogar die Jüngste, eine Mutter von vier Kindern, wusch mir die Haare. Sie tat es liebevoll, flüsterte „mein Sohn“ und erzählte, dass sie auch ihren Mann so gewaschen hatte. Sie gaben mir auch etwas zu essen – und jetzt brachten sie mich ins Bett. Genau wie zu Hause. Die Front ist weit, weit entfernt. Ich höre keine Kanonen. Man sagt, unsere Truppen seien bereits 13 Kilometer vor Nikolajew. Die Front ist am Bug zum Stillstand gekommen. Bis jetzt...

In einer Wohnung am Rand des Dorfes machten wir Halt. Ein junges Mädchen, 28 Jahre alt – fast noch ein Mädchen, aber schon erwachsen. Hübsch, aber offenbar noch unerfahren in der Liebe. Sie schaute mich an – schweigend, lange, neugierig, als wolle sie etwas Unbekanntes ergründen. Ihre schönen blauen Augen starrten mich an, endlos. Ein hübsches Geschöpf! Schade, dass ich nicht in deinem Alter bin – ich würde dir zeigen, was Liebe ist...

Viele Leute mochten mich, vor allem, weil ich meine neue Offiziersuniform trug und einen Mantel hatte. Doch ich weiß nicht, wie ich mich ihnen gegenüber verhalten soll. Ich fürchte mich vor dem Moment, in dem ich mit einem Mädchen das Bett teilen müsste. Es ist beängstigend, es zu sagen – ich bin 21 Jahre alt und habe noch keinerlei Ahnung oder Erfahrung damit...

Mai 1944:

Das Wetter heute ist unfreundlich. Wind und Sonne sind kalt. Im Dorf krähen Hähne, Kälber muhen. In der Taiga ruft der Kuckuck – aber hier und da donnern Granaten. Beide Seiten werfen sie wie Bälle über uns hinweg, und zwischen den Einschlägen herrscht eine solche Stille, als gäbe es keinen Krieg – als würde jemand nur zum Spaß mit ihnen spielen. Mal rechts, mal links, mal nah, mal fern. Eine Granate schlug vier Meter hinter mir ein – sie landete auf einer toten Kuh, die etwa zwei Meter weit geschleudert und verdreht wurde. Ihre letzten, noch nicht verwesten Eingeweide quollen heraus...

Was sehen wir, die Leserinnen und Leser, noch durch die Augen Wladimir Gelfands? Den Mangel an Ordnung und Disziplin in den Reihen der Truppe: karge Verpflegung, unhygienische Bedingungen, allgegenwärtige Läuse, antisemitische Äußerungen und kontinuierliche Diebstähle. Die Soldaten stahlen sogar die Stiefel ihrer eigenen Kameraden.

Am 25. April 1945, als Wladimir Gelfand bereits in Berlin war, notierte er in seinem Tagebuch, dass „die Deutschen mit Entsetzen von dem Leid berichteten, das ihnen die Frontsoldaten in der ersten Nacht nach dem Eintreffen der Roten Armee zufügten“. Eine junge Deutsche, die Gelfand begegnete, schilderte ihre traumatische Erfahrung mit den Worten: „Sie haben sich einfach genommen, was sie wollten – die ganze Nacht, es waren so viele… Ich war ein Mädchen“, sagte sie unter Tränen, „sie haben meine Jugend zerstört.“ Sie sprach von mindestens zwanzig Männern, manche alt, manche ungepflegt, die sie nacheinander bedrängt hätten.

Eine andere Frau, offenbar ihre Mutter, fügte hinzu: „Sie haben meine Tochter vor meinen Augen missbraucht. Sie könnten jederzeit wiederkommen und es erneut tun.“ Diese Äußerung verursachte spürbares Entsetzen unter den Anwesenden. In dem Keller, in den Gelfand von seinen Gastgebern gebracht worden war, breitete sich ein bitteres Schluchzen aus. Die junge Frau wandte sich schließlich an ihn und sagte: „Bleib bei mir. Du kannst mit mir machen, was du willst – aber nur du allein.“

Gleichzeitig ist festzuhalten, dass sich deutsche Soldaten während des Krieges auf sowjetischem Boden durch vielfache Verbrechen an der Zivilbevölkerung schuldig gemacht hatten – über beinahe vier Jahre hinweg. Die deutsche Wehrmachtsführung war derart besorgt über die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten unter den Truppen, dass sie in den besetzten Gebieten ein Netz militärisch kontrollierter Bordelle errichtete.

Als die Rote Armee schließlich Berlin erreichte, stießen ihre Soldaten auf Plakate, die auf sowjetischem Boden verbreitet worden waren und nun zusätzliche Wut auslösten: „Soldat, du stehst auf deutschem Boden – die Stunde der Rache ist gekommen!“

Die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee erklärte zwar, dass ein „echter sowjetischer Soldat“ so sehr von Hass auf die Deutschen erfüllt sei, dass ihn der Gedanke an körperliche Nähe zu einer Deutschen abstoßen müsse. Doch die Realität war anders: Die Führung kannte ihre Soldaten schlecht. Bereits Ende 1944 berichteten Offiziere des NKWD sowohl an Berija als auch an Stalin über sexualisierte Gewalt in Ostpreußen. In ihren Meldungen war von Massenvergewaltigungen die Rede – sowie von deutschen Frauen, die versuchten, sich selbst und ihre Kinder zu töten, um diesem Schicksal zu entgehen. Einige Frauen fanden jedoch Wege, sich unter den gegebenen Umständen anzupassen und zu überleben.

Als Gelfands Tagebuch im Jahr 1959 in Deutschland unter dem Titel Eine Frau in Berlin veröffentlicht wurde, warf man dem Autor vor, die Ehre der deutschen Frauen zu verletzen. Gelfand selbst reagierte auf diese öffentliche Ablehnung mit der Forderung, das Tagebuch zu seinen Lebzeiten nicht erneut zu publizieren.

Kein einziger sowjetischer Soldat wurde wegen der Vergewaltigung oder Ermordung deutscher Zivilistinnen und Zivilisten hingerichtet. In Ostdeutschland galt es über Jahrzehnte hinweg beinahe als blasphemisch, Kritik an den sowjetischen Siegern über den Faschismus zu äußern. Es stimmt jedoch, dass unmittelbar nach dem Krieg angeordnet wurde, dass alle deutschen Frauen im Alter von 15 bis 55 Jahren auf Geschlechtskrankheiten untersucht werden mussten. „Um Lebensmittelkarten zu bekommen, brauchte man ein ärztliches Attest“, erinnerte sich eine deutsche Frau, die von sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden war. „Ich weiß noch, wie die Wartezimmer aller Ärzte voller Frauen waren.“

Das wahre Ausmaß der Gewalt lässt sich nur durch Zahlen andeuten: Rund 100.000 Frauen allein in Berlin und etwa zwei Millionen in ganz Deutschland wurden vergewaltigt. In der deutschen Hauptstadt wurden innerhalb von sechs Monaten etwa 1.000 Abtreibungsanträge genehmigt – obwohl Abtreibung im damaligen Deutschland verboten war. Nach Kriegsende wurde die Regelung für kurze Zeit gelockert. Besonders die Massengewalt des Jahres 1945 hinterließ tiefe Spuren. Ein junges Mädchen schrieb mit runder Kinderhandschrift, dass sie zu Hause, im Wohnzimmer, vor den Augen ihrer Eltern vergewaltigt worden sei. Für manche angetrunkenen Soldaten wurden Frauen zu Trophäen – wie Uhren oder Füllfederhalter.

Es ist erschütternd, etwas Furchtbares über diejenigen zu erfahren, über die man bislang nur in Superlativen dachte. Es ist beängstigend, sich von lange gepflegten Illusionen zu lösen. Der sowjetische Mensch wollte – und will bis heute – oft nur vom Sieg im Großen Vaterländischen Krieg hören. Alles andere interessiert ihn nicht. Der Blick war begrenzt auf Heldentaten. Doch es ist gefährlich, in die Zukunft zu gehen, ohne sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Denn diese könnte in anderer Gestalt zurückkehren. So wie heute, im schrecklichen Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Lew Kopelew schrieb:

„Warum gab es unter unseren Soldaten so viele Banditen, die Frauen und Mädchen im Schnee und in den Gassen vergewaltigten, unbewaffnete Menschen töteten, alles zerstörten, was sie konnten, schissen und brannten? Und sie zerstörten sinnlos, nur um zu zerstören.“

Kopelew wurde wegen der „Propaganda bürgerlichen Humanismus und Mitleids mit dem Feind“ aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen. Kurz darauf wurde er verhaftet und wegen der „Rettung von Deutschen“ verurteilt. Es gab also zahlreiche Zeugen – doch nicht alle konnten die Wahrheit öffentlich sagen.

Wladimir Gelfand diente über ein Jahr lang im besetzten Deutschland. Er war Skeptiker, ein düsterer Pessimist, und er neigte nicht zum Beschönigen. Dafür fand der Autor stets die richtigen Worte. Wir hingegen haben heute nicht genug Zeit, um dem Ende dieses einzigartigen Tagebuchs näherzukommen. Lassen wir es für das nächste Mal. Ich versichere Ihnen: Die Handlung wird noch spannender. Wladimir Natanowitsch verdient es. Wir werden noch sprechen über seine Schwärmereien und Enttäuschungen, über sein erstes Jahr im Nachkriegsdeutschland, über die Begegnungen mit deutschen Frauen – und über das weitere Leben des Offiziers Wladimir Gelfand.

Wir haben es versucht – Bruder gegen Bruder,
Nun ist die Zeit, sich selbst zu zerschlagen.
Sie schreiten durch die Schwärze des Platzes
Und treten ein in den inneren Kreis.

Nachbarschaften gegen Nachbarschaften,
Taumeln durch ihre engen Gassen,
Bataillone besetzen die Straßen,
Und das Fernsehen spielt die Polizei.

Die Netze regiert von den Rechten,
Der Falsche wird zum Kerker verurteilt,
Die Alten Kommissare drohen
Mit Repressalien in leerem Ton.

Und Gewehre zittern im Takt
Der glanzvollen Parade.
Wo keine Persönlichkeiten sind, stehen Männer –
Gedrängt wie Vieh, stumm und vage.

Digitalisiert im Schatten der Wände,
Sie, mit zwei Worten verbannt,
Hetzen sich in die Karawanen,
In den erbarmungslosen Fleischwolf gebannt.

Und Bruder und Freund, Bezirk und Stadt –
Grenze verdrängt die Grenze.
Berg zieht gegen Berg in den Krieg,
Und Verleumder richtet Verleumder.

Die Zeit wird zu stählernem Strang,
Die Erde verdorrt vor Durst.
Und alle ziehen gegen alle –
Wie einst – ein fataler Verlust.

Die Welt wird sich in Wut verkeilen,
Und in Trümmern verglühen.
Und wieder bleibt nur das Rätsel der Zeit –
Das den Nachkommen bleibt zu erspüren.

Zwei Hindernisse beeinträchtigen meine Arbeit in höchstem Maße, verwirren meine Gedanken und quälen mich unerträglich: die Läuse und die Kälte.

Die Versorgungslage hat sich gebessert – Vieh befindet sich überall im Verteidigungsbereich, läuft umher, muht, blökt, grunzt, leidet… und wird überall vernichtet. Gerade jetzt steht ein verwundetes Pferd, an Vorder- und Hinterbeinen verletzt, auf zwei Beinen wankend an ein Haus gelehnt. Es droht jeden Moment umzufallen, und aus seinen Augen treten große, dunkle Tränen. Vielleicht denkt es an etwas – völlig hilflos vor Schmerz und Verzweiflung.

An einer anderen Stelle fiel eine Kuh mit Verletzungen am Rücken und am Kopf in einen flachen Graben und stieß laute, klagende Rufe aus – ein langgezogenes, verzweifeltes Muhen.

Ein verängstigtes Schaf lief ziellos im Kreis, schüttelte den Kopf, stieß klägliche Laute aus – und brach schließlich in einem Anfall zusammen.

Fleisch gibt es hier im Übermaß – man muss kein Tier schlachten: Der Krieg selbst bringt täglich und stündlich den Tod.

Ich möchte Sie daran erinnern, dass Wladimir Natanowitsch Gelfand aus der Region Kirowograd in der heutigen Ukraine stammte und 1923 geboren wurde. Am 1. März dieses Jahres hätte er seinen 100. Geburtstag feiern können – doch er ist bereits vor vierzig Jahren verstorben. Dass er ein überzeugter sowjetischer Patriot war und sich an der Front der Partei anschloss, hinderte ihn nicht daran, in seinen Tagebüchern das Leben der Soldaten, das Verhalten der Vorgesetzten, Plünderungen, Antisemitismus sowie die Beziehungen der Rotarmisten zur polnischen und deutschen Zivilbevölkerung offen und ohne ideologische Verklärung zu schildern.

Die Tagebücher wurden nach dem Tod des Autors von seinem Sohn entdeckt. Ein solches Maß an schonungsloser Offenheit findet sich in kaum einem anderen Zeugnis des Zweiten Weltkriegs. Gelfand erreichte Berlin, wurde jedoch erst ein Jahr nach dem Sieg aus dem Militärdienst entlassen.

Inzwischen befinden wir uns mit Wladimir Gelfand im Juni 1944:

Alle alten Kämpfer und Kommandeure tragen Auszeichnungen auf der Brust, die meisten dieser „alten Männer“ zeigen sich erfüllt von Stalins Dankbarkeit – neue, feine Stiefel an den Füßen, neu zugeschnittene Mäntel im Komsomol-Stil. Die Offiziere trinken Wein, machen Witze, vergnügen sich. Ich aber habe nichts Gutes zu berichten, nichts, woran ich mich erfreuen könnte. Um mich herum herrschen Kummer und Not. Überall werde ich zurückgewiesen, ohne Mitgefühl behandelt, ständig schikaniert. Von zu Hause erhalte ich bedrückende Nachrichten – über den psychischen Zustand meiner Mutter, über das Einreiseverbot nach Dnipropetrowsk. Mein Vater berichtet von seiner Krankheit, Tante Anja und andere Verwandte von ihren Sorgen und Problemen. Allen soll geholfen werden, an alle muss ich denken...

Es gibt einen Film – Maschenka. Nur in Filmen, in der Kunst, in Büchern und Gedichten finde ich Trost und Ruhe.

Juli 1944:

Gestern griff die feindliche Luftwaffe die Stadt an und warf Splitterbomben ab. Ein Sanitäter wurde dabei verwundet – ein guter Mensch, ein Spaßmacher, er hatte ein interessantes Buch bei sich: Notizen einer Prostituierten...

Am Abend, vor meiner Abreise, wollte ich mich von einem Kameraden verabschieden. Man wies mich auf eine angelehnte Tür. Ich trat ein – hielt sie für die Tür zum Flur –, da öffnete sich der Fensterladen. Die Schwester des Soldaten stand da, und ich sah den Kameraden zusammen mit Figirita im Bett. Sie lag nackt oder halbnackt da, bedeckte sich nicht einmal. Ich hatte sie offenbar stark gestört.

Wie dem auch sei – das Gesetz des Krieges lautet: Fürchte dich vor Konflikten und Missgunst deiner Vorgesetzten...

Ich habe die Literatur fast aufgegeben. Ich schreibe keine Gedichte mehr. Ich veröffentliche nichts in Zeitungen. Meine innersten Träume und Gelübde – einst wollte ich meine Feinde über die Literatur öffentlich machen – erscheinen mir heute verfrüht und fruchtlos. Im Krieg reiht sich ein Fiasko an das nächste. Es gibt keine Medaillen. Nicht einmal für Stalingrad. Kein Ansehen. Ich beginne erst jetzt wieder, ins Leben zurückzukehren – mit Misstrauen und Unaufrichtigkeit meiner Vorgesetzten im Nacken. Der Boden unter meinen Füßen ist wackelig. Auch die Liebe fehlt. Seltsam, aber ich bin einundzwanzigeinhalb Jahre alt – und habe noch nie ein Mädchen geküsst oder die Hand gehalten (außer Olja). Andere rühmen sich längst mit weit mehr. Das Leben ist vulgär geworden. Es gibt keine wahre Liebe, keine Ideale, keine aufrichtigen Beziehungen – nur Gemeinheit, Verrat, Bosheit. Und genau diese bestimmen heute alles. Das habe ich begriffen – das hat mich der Krieg gelehrt.

Das Trostloseste am Krieg, das Schrecklichste inmitten der Schlacht ist es, im Graben oder in einem Erdloch zu sitzen, den Rauch der Einschläge zu sehen, den Atem der Erde zu spüren, den Geruch des Verbrennens einzuatmen, den unregelmäßigen Herzschlag zu fühlen. Draußen, auf dem offenen Feld, inmitten des direkten Kampfes mit dem Feind, vergisst man sogar Angst und Gefahr...

Von meiner Kompanie blieben nur noch 30 Mann übrig – von ehemals 70. Zwei Zugführer fielen, einer wurde verwundet. Viele Waffen blieben auf dem Schlachtfeld zurück. Die Überlebenden der Infanterie zeigten großen Mut. Einen solchen Helden, der vermutlich unbekannt und unbelohnt bleiben wird, habe ich heute gesehen: Er war an beiden Händen verwundet, verband dennoch andere Verwundete – es gab keine Sanitäter –, und schleppte zehn automatische Gewehre sowie ein elftes, eigenes, über das Feld. Als ich ihn traf, blutete er und war am Ende seiner Kräfte...

Ich kämmte mein Haar – und fand weiße Strähnen. Trauer und Enttäuschung, vor allem durch Menschen, haben mich tief geprägt. Das ist das Vermächtnis des Krieges und der Front.

Herbst 1944, Polen:

September:

Die Uniformen sind zerrissen und schmutzig. Die Spitze des Bataillons ist nur mit sich selbst beschäftigt – persönliche Intrigen, taktisches Lavieren. Die Soldaten und Offiziere spielen für sie kaum eine Rolle: wie sie leben, was sie essen – wen kümmert’s? Hauptsache, die Führung hat es gut. Über die Soldaten zu sprechen lohnt kaum. Sie sind Sklaven des Kommandeurs, sein Wille ist Gesetz. Aber es gibt Offiziere – und das nicht wenige –, die dem Krieg nur Lippenbekenntnisse entgegenbringen. Mit List und Taktik sichern sie sich Auszeichnungen und Ruhm. Die Soldaten stehen im Schatten. Sie erhalten lediglich Befehle – es sei denn, man versucht sie mit Schmeicheleien oder im Fall einer besonders spektakulären Tat ins Licht zu rücken. Doch selbst dann bleibt ihnen meist nur Schweigen.

Ich liebe diesen Mann, doch in letzter Zeit schätze ich seine Meinung kaum noch – zu viel Ungerechtigkeit und Unfreundlichkeit habe ich im Krieg und an der Front von Menschen erlebt...

Gelfand träumt nicht, wie viele Soldaten, davon, General zu werden – nein, er geht in eine andere Richtung.

Ich werde bekommen, was ich will! – schreibt er. – Ich werde aus mir ein Talent machen. Ich denke an ein Talent, das ich mir aneignen will, auch wenn ich mich noch nicht für einen begabten Menschen halte. Talent ist keine glückliche Eingebung, kein Zufallsfund oder eine Gunst des Schicksals, sondern ein ständiger, angespannter Kampf von Geist und Wille, von Denken und Wollen. Es ist eine große, mühsam errungene Eroberung, die wie ein Banner getragen werden muss. Talent wird aus Liebe geboren – der Liebe zur Mutter, zu einem Mädchen, zu einem Baum, wie alt oder hässlich er auch sein mag, zur Liebe zum Leben und, wenn es sein muss, sogar zum Tod... Der Krieg, der viele Herzen verhärtet hat, hat mich im Gegenteil dazu gebracht, mich ganz und gar zu öffnen – für Zuneigung, für Liebe. Und wenn ich ihr begegnete, gab ich mich meinem Gefühl hin, ohne zu zögern, ohne Berechnung.

Oktober 1944:

Unsere Soldaten ziehen umher, fragen nach Milch, nach Schnaps, stehlen Pferde, Vieh – die Bewegung der Armee wird vielerorts von den Tränen und Klagen der Zivilbevölkerung begleitet. Die Deutschen haben Schlimmeres getan, aber auch unsere slawischen Nachbarn erleben diese Situationen als bitter. Hier ist man weit entfernt vom sowjetischen Hinterland – in einem fremden Land, mit einer fremden Regierung. Ein Land, das nicht vergisst, und das zurückschlägt, wenn man ihm schadet.

Auch die Partisanen genießen hier kein Vertrauen. Die Leute sagen, sie hätten die Bevölkerung ausgeplündert und junge Frauen missbraucht.

Meine Gastgeber äußerten sich offen reaktionär: „Wir glauben nicht, dass uns die Rote Armee befreit – sie bringt uns eine neue Unterdrückung, die noch schwerer wiegt als die deutsche. Unsere Leute erkennen die neue Regierung nicht an – sie sind Verräter. Ihr seid mit Waffen zu uns gekommen, weil ihr stärker seid – nicht weil ihr Recht habt.“

November 1944:

Endlich habe ich einen Brief von Klawa Pleskach erhalten – und sofort war ich enttäuscht. Ich wünschte, sie hätte nicht geschrieben. Ich hätte sie weiterhin leidenschaftlich lieben und achten können. Aber jetzt – ihre Zeilen offenbaren nicht die Intelligenz und geistige Tiefe, die ich erhofft hatte. Sie ist erschreckend ungebildet...

Ich habe mich in das Porträt der Muttergottes verliebt, das hier an der Wand hängt. Was für eine wunderschön gezeichnete Frau! Ein wahres Ideal mädchenhafter Schönheit! Etwas von Tamara erkenne ich darin, aber edler, etwas von den anderen Mädchen – und doch schöner! Worte reichen nicht aus, um all die Züge zu beschreiben, die mich von diesem Bild anschauen. Ich kann nur sagen: Ich liebe sie. Ich würde sie fest umarmen – innig –, wenn sie nicht bloß ein Bildnis wäre, das mich stumm und regungslos ansieht.

November 1944:

Mir wurde eine Überweisung ausgehändigt – man sagte einfach: „Los!“ Ich wippte kurz, drehte mich um und stand schon im Hof. Weiche Schneeflocken klebten samtig an meinem Gesicht, schmolzen in kleinen Rinnsalen. Auf den Schulterklappen lag eine dicke weiße Schicht, und nur der Wind störte ihre friedliche Ruhe. Eine Ruhe, die mir willkommen war – nach dieser langen, wilden Reise zurück zur Erde.

Ich habe die große Aufgabe erhalten, in diesem Krieg um die größten Städte Europas zu kämpfen: um Charkiw, Stalingrad, Mykolajiw, Odessa – und nun um Warschau. Die Kämpfe werden erbittert sein. Wir werden auf heftigen Widerstand stoßen. Es wird erneut Tote geben. Es wird erneut Blut fließen...

Januar 1945 – Polen:

In den Wäldern gibt es viele feindliche Soldaten – sie werden zu Hunderten gefangen genommen. Ein Deutscher war bereits 1941 öffentlich erschossen worden, als die Wehrmacht vorrückte. Er hatte damals offen zu seinen Landsleuten gesagt: „Wir werden Russland nicht besiegen.“ Er wurde als Verräter erschossen und verbrannt. Die Deutschen waren damals satt und siegessicher – sie marschierten, sie flogen. Heute, sagen die Bewohner, ziehen sie sich in Panik zurück – erschöpft, wütend, enttäuscht.

Ein kleiner Deutscher kam in ein Haus, sank schwer auf einen Stuhl und sagte: „Ich kann nicht mehr, ich will mich ergeben“ – und begann zu weinen.

Die Menschen hier sprechen eine Mischform des Polnischen – stark überlagert durch deutsche Ausdrücke. Die deutsche Sprache hatte das Polnische verdrängt – Polnisch zu sprechen war verboten.

Es ist früher Morgen. Es ist halb acht. Wir bereiten uns vor. Zum ersten Mal in Polen habe ich Huhn gegessen, Kakao getrunken und mich gut ausgeruht. Mein Unteroffizier und die Soldaten erzählten den Polen von unserem Essen, unserer Kleidung, Ausrüstung, unserem Land, unseren Leuten, unserer Armee. Ich ergänzte leise, dass auf einen Frontsoldaten etwa 15 Unterstützer in der rückwärtigen Einheit kommen – 5 für die Versorgung, 10 für die Waffen...

Die Deutschen haben so viele Trophäen in der Stadt zurückgelassen, dass die Nachricht davon bis in die entlegensten Dörfer vordrang. Die Menschen fürchten das Militär – die Deutschen hatten sie eingeschüchtert – und trauen sich kaum, aus dem Haus zu gehen, um sich etwas zu holen. Alles Deutsche, außer Kleinigkeiten, fällt an uns. Viele Soldaten benehmen sich beschämend – sie stehlen nicht nur Pferde, sondern plündern Wohnungen, nehmen Fahrräder, Eigentum, Schweine, Kühe und vieles mehr mit. Menschen, die sich ehrlich über unsere Ankunft gefreut hatten, betrachten uns nach solchen Raubzügen mit Misstrauen – ja sogar mit Abneigung. Ich bin ein entschiedener Gegner der Parteilichkeit innerhalb der Roten Armee.

In der Kompanie herrscht Feindseligkeit und Rohheit. Flüche, Beleidigungen, Prügeleien – nichts davon wird unterbunden. Stehlen und Betrügen gehören inzwischen fast zur Tradition.

Die Häuser hier sind aus Stein gebaut. Die Menschen sind freundlich und haben viel durchgemacht. Sie begrüßen uns wie Verwandte, und wir leben hier fast wie zu Hause – wie in Mykolajiw, in Odessa, vielleicht sogar besser als in Rostow. Doch für die Bevölkerung bleibt oft nichts übrig.

Wodka – im Übermaß. In jedem Dorf hatte – und hat – nahezu jeder deutsche Siedler eine eigene Destille. Die Menschen trinken den rohesten Alkohol, bis zur Bewusstlosigkeit. Viele verbrennen sich dabei innerlich – doch das hält sie nicht auf. Ein Kamerad stirbt infolge solcher Vergiftung.

Januar 1945:

Deutschland. Nach 38 Kilometern seit der letzten Unterkunft – in zwei Tagen insgesamt 90 Kilometer. Deutschland begegnet uns mit Kälte, Schneesturm, bitterem Wind und fast menschenleeren, ausgestorbenen Dörfern. Die Menschen hier sind Deutsche – aus Angst vor der Rache der Roten Armee. Sie fliehen, lassen ihr Hab und Gut zurück. Als wir eintrafen, hoben sie panisch die Hände und fragten nur noch: „alez kaputt, alez kaputt?“ Sie hatten alles verloren, was sie besaßen.

Der Reichtum der Häuser ist überwältigend. Einrichtung und Besitz – von solcher Pracht und Eleganz, dass sie unsere Leute in Erstaunen versetzen. Und unsere Soldaten greifen zu. Es gibt keine Verbote, deutsches Eigentum zu beschlagnahmen – schließlich hat man uns zuvor ebenfalls alles genommen. Ich persönlich bin mit mir im Reinen. Rysiew zerschlug gestern eine Büste von Schiller und hätte beinahe auch Goethe zerstört – ich entriss sie ihm gerade noch rechtzeitig. Genies darf man nicht mit Barbaren gleichsetzen. Ihr Andenken zu zerstören, ist eine große Schande.

Kanonenko ist ein unberechenbarer Mensch. Täglich betrinkt er sich hemmungslos, schießt mit jeder Waffe, die er in die Finger bekommt, wirft Gegenstände nach anderen. Auch mich schlägt er oft, obwohl er schwächer ist als ich – doch ich traue ihm nicht zu widersprechen, so wenig glaube ich an seine geistige Stabilität. Heute stritten wir, und er schleuderte einen schweren Tontopf gegen die Wand – knapp an mir vorbei.

Ich habe Geld beiseitegelegt – 7.000 Reichsmark. Es zirkuliert zwar nicht mehr, könnte aber später noch nützlich sein. Zwischen dem deutschen Geld fand ich sogar noch einen Zehn-Rubel-Schein.

Februar 1945:

Noch 70 Kilometer bis Berlin. Doch vom Ende des Krieges – keine Spur. Die Deutschen leisten erbitterten Widerstand. Wir kommen kaum voran. Tagelang treten wir auf der Stelle. Die Verluste sind schwer. Mindestens die Hälfte der Kameraden wurde verwundet oder getötet. Die Situation ist katastrophal.

Gestern, in diesem baufälligen Keller, in dem ich mich befinde, wurden durch eine Mine drei Soldaten verwundet. Heute fielen zwei Flakschützen, ein dritter wurde schwer verwundet. Auch ein Feldwebel und ein Mörser-Schütze wurden getroffen. Und das alles auf einem nur 150 Meter langen Frontabschnitt.

Aber die Läuse!... So viele wie hier in Deutschland hatte ich noch nie – nicht in Polen, nicht in Bessarabien, nicht in Russland. Sie kriechen über meinen ganzen Körper – kleine, große, riesige. In Gruppen oder allein, wie Schweine auf einem Bauernhof. Ich kann es nicht mehr ertragen. Es ist eine Qual, subtiler und anhaltender als jeder Kampf. Ich möchte schreien, mir die Haare ausreißen. Mein Körper ist wund vor Stichen. Ich habe seit Dezember 1944 keine Unterwäsche mehr gewechselt – und es ist jetzt Februar. Alles ist schmutzig, zerfetzt – von den Läusen durchgenagt. Die Wolle am Körper hat sich zu Klumpen verfilzt...

Ein Leutnant (!) – ein Offizier – hat sich selbst verletzt. Es ist das erste Mal, dass ich von einem Offizier höre, der sich aus Feigheit selbst angeschossen hat: in die linke Hand. Er war jung, mit dem Orden des Roten Banners und der Medaille zur Verteidigung von Stalingrad ausgezeichnet. Ihm wurden sämtliche Auszeichnungen aberkannt, sein Eigentum konfisziert, und schließlich wurde er erschossen – wie ein Hund.

Ich empfand kein Mitleid, doch die Szene lastete auf mir. Vor allem der letzte Moment: Als der Kommandeur befahl: „Feuer auf den Verräter!“ schloss der Verurteilte fest die Augen – und im nächsten Moment durchschlugen drei Kugeln seinen Kopf. Er brach zusammen – der Boden unter ihm getränkt vom austretenden Blut.

Februar 1945, Polen:

Wie viele Menschen fielen vor meinen Augen, verbluteten, verloren Beine, Arme, den Bauch – herausgerissen durch Granatsplitter. Ein schrecklicher Anblick. Doch ich nahm ihn nicht bewusst wahr – ich sah nur die vorrückenden Deutschen, etwa fünfzig Meter entfernt, Panzer, Bewegung, Feuer. Das war das Konkreteste für mich. Ich verspürte keine Angst, rannte nicht vor den Granaten davon – das Schicksal verschonte mich, obwohl ich durch einen Hof lief, der von Leichen übersät war, von Mensch und Tier, durchzogen von Splittern, Trümmern, Ziegeln, Rauch und Schlamm.

In der Kompanie gab es keinen Gefreiten, keinen Unteroffizier, keinen Offizier, der nicht öffentlich auf die rücksichtsloseste Weise vom Hauptmann Ryssew beschimpft worden wäre. Beleidigungen in aller Schärfe waren bei ihm an der Tagesordnung. Ich wurde nur ein einziges Mal öffentlich geohrfeigt – weil ich ihn bat, mich nicht vor meinen Soldaten bloßzustellen und meine Autorität nicht zu untergraben. Ein anderes Mal veranlasste er sogar, dass man mit einer Pistole auf mich schoss.

Gelfand litt unter vielem. Schon seine Herkunft reichte dafür aus. Frühe Notizen zeigen seinen Blick auf den umgebenden Antisemitismus:

Juden – elend, stolz, klug, kleinlich, gütig, geizig, ängstlich… Auf den Straßen, im Park, im Brotladen, in der Schlange für Petroleum – überall flüstert man. Dieses Flüstern – heiter, doch voller Hass. Man spricht über die Juden. Leise, vorsichtig, mit Seitenblicken. Juden seien Diebe. Sie hätten Geld. Sie wollten nicht in der Armee dienen. Sie arbeiteten nicht. Sie lebten ohne Registrierung. Sie säßen auf unseren Köpfen. Juden seien die Ursache für alle Katastrophen. Ich habe das oft gehört. Mein Aussehen und meine Sprache machen mich nicht als Juden kenntlich.

März 1945:

Noch 90 Kilometer bis Posen. Die Mädchen lächeln uns zu, begrüßen ihre Befreier mit Bewunderung. Gestern schenkte mir eine Frau einen Strauß Schneeglöckchen – ich trug ihn lange mit mir.

Ende April 1945 war Gelfand mit der 301. Schützendivision an der Erstürmung Berlins beteiligt.

Unermessliches Glück, diesen fürchterlichen Krieg gerade in Berlin, im zerstörten Herzen des Dritten Reiches, gemeinsam mit unseren Verbündeten zu beenden – in einer der drei geteilten Sektoren dieser Stadt. Das ist ein Traum für jeden, der diesen Krieg erlebt hat, mit all seinem Schrecken und Elend, und der den Wunsch verspürte, den Deutschen Heimzahlung zu leisten. Mein einziges Ziel war es, an der Front zu stehen – und wenigstens eine Medaille zu erhalten. Denn ohne Medaille – das weiß ich – werde ich in der Heimat nur auf Verachtung stoßen. Was soll ich ihnen sagen? Was als Beweis anführen? Sie werden sagen: „Du hast nicht gekämpft!“ Und oberflächlich betrachtet – hätten sie recht. Was für ein Paradox.

An diesem Tag war ich mutiger als je zuvor. Ich nahm sie in den Arm, legte meine Hand um ihre Taille. Ich küsste ihre Wangen, ihre Stirn, ihren Hals, ihre Lippen. Ihr ganzes Gesicht – aber es schmeckte nicht. Warum, weiß ich nicht. Die Dichter glauben, Küssen sei das Schönste – doch dieser erste Kuss mit einem anderen Mädchen als Olja enttäuschte mich. Katusha ist wunderschön – und doch… Selbst der Kuss auf die Lippen ließ mich kalt. Sie wehrte sich nicht – aber sie küsste mich auch nicht. Ihre Lippen öffneten sich, schlossen sich – mehr nicht.

Am zärtlichsten war die Berührung ihres Halses mit meiner Wange und der Kontakt meiner Hände mit ihrer jungen, kaum entwickelten Brust. Ihre Hände – klein, mädchenhaft, aber hart vom Leben. Katusha war eine Perle unter Dornen. Das Leben hatte sie geformt – ernst, diszipliniert. Sie wollte leben! Viel Liebe wohnte in ihr – vielleicht war selbst dieser flüchtige Kuss für sie ein Moment des Glücks. Ich zögerte – den letzten Schritt zu tun, über den ich so oft nachgedacht hatte…

Nach dem Sieg hoffte Gelfand, endlich aus der Armee entlassen zu werden. Doch es kam anders. Er bat um Urlaub – selbst seine Mutter schrieb an Stalin. Vergeblich. Der Sohn erhielt keinen Urlaub. Die Plünderung der Wissenschaftlichen Bibliothek in Berlin nannte er „eine schändliche Barbarei“.

November 1945:

Gelfand schreibt, was die wenigsten über sich selbst sagen würden:

Ich bin ein junger – und, wie ich glaube, interessanter – Mann, mit einem schwierigen Charakter, empfindlich wie eine gespannte Saite, manchmal verschlossen, verletzlich und tief verwundbar. Ich trage meine Kränkungen im Herzen, zeige sie kaum. Ich habe schwarze Samtaugen und ein Herz, das das Leben liebt – das halte ich für meine größte Tugend.

In mir liegt beides: Geiz bis zur Kleinlichkeit – wie ein habgieriger Händler auf einem Basar – und zugleich Großzügigkeit, Einfachheit, Verschwendung, wie sie ohne Beispiel scheint. Ich kann an einem Tag alles ausgeben, was ich jahrelang gespart habe – und dann wieder anfangen zu sparen, als sei nichts gewesen. So bin ich in allem. Ich bin nicht konsequent – nicht im Handeln, nicht in meinen Plänen. Ich kenne keine Disziplin, keine Planung, keine Methode. Meine Gedanken hängen von meiner Stimmung ab. Meine Arbeit – vom Umfeld. Und doch nicht nur. Ich bin zu sehr abhängig von anderen. Die Meinung der Menschen um mich herum ist mir wichtig – auch wenn man selten aufrichtiges Wort hört.

Ich bin empfänglich für menschliche Nuancen. Ich kann Ungerechtigkeit nicht ertragen. Ich bin manchmal zu Großem bereit – ich habe Pathos, Redekunst, Willen. Aber ich bringe Dinge nicht zu Ende. Die Geduld fehlt. Die Initiative stirbt. Alles wird mir bald zuwider – besonders, wenn man mich kritisiert oder verspottet, selbst wenn es ungerecht ist.

Doch ein Gedanke lässt mich nicht los: Schriftsteller zu sein. Und berühmt. Noch bin ich weit davon entfernt, auch nur die Hälfte dieses Traums zu verwirklichen – doch mein Ehrgeiz, meine Phantasie zeichnen mir ein poetisches Kleid, zart und leidenschaftlich, fest und leuchtend. Ich glaube: Es ist für mich gemacht. Von der Natur. Für das Leben. Und für den Schmerz.

Sie lesen das – und erkennen sich selbst darin. In dem, was Gelfand sagt. Und dann begreift man: Man selbst hätte sich das vielleicht nie zu sagen getraut. Aber Gelfand – war furchtlos.

Die Kämpfer sind hart. Ich kann nicht hart zu ihnen sein – ich habe Mitleid mit den Menschen. Ich kann sie auch nicht mit rohen Worten beschimpfen. Bitten, erklären, überreden – das ist alles, was mir bleibt. Doch Menschen akzeptieren das nicht. Ein wohlwollender Ton führt nur zu Missverständnissen.

Warum hat mich das Schicksal verschont? Warum hat mich das Leben in so vielen tödlichen Situationen nicht verlassen? Es zeigt sich – ich bin offenbar in irgendeiner Weise nützlich für eine majestätische Schönheit im bunten Lockenkleid, die den zarten, einzigartigen und süßen Namen „Leben“ trägt...

Juni 1945 – nach dem Sieg:

Ich habe in letzter Zeit viele neue Eindrücke gesammelt, viele Abenteuer erlebt – und doch bin ich ein Herumtreiber und ein Schwärmer geworden. Ich träume vergeblich von der Liebe, vielleicht sogar mit einer Deutschen – aber nur, wenn sie klug, schön, rein und vor allem treu ist, wenn sie mich liebt. Doch über Träumereien bin ich nie hinausgekommen – ich habe sie umarmt, geküsst, mit ihnen gesprochen – zwei, drei Stunden lang. Das passende Mädchen habe ich nicht gefunden: Die eine – zart, aber töricht, die andere – leidenschaftlich, aber kapriziös, die dritte – unschön, die vierte – ohne Figur. Nur die russischen Mädchen: stolz und empfänglich für feine Gedanken.

Gestern erfuhr ich die Nummer des Ordens, mit dem ich den Roten Stern erhalten habe. Dozenten der Bauschule boten mir an, ihn zu reinigen – das machte mir den Orden nur noch unangenehmer. Diese Auszeichnung ist mir eine Schande – eine Beleidigung meiner Gefühle.

Ich bin entschlossener geworden als früher. Meine Schüchternheit habe ich vergessen, meine Scheu verloren. Und auch die Mädchen haben ihren Stolz abgelegt – die „Preise“ für Männer sind während des Krieges gestiegen. Ich bin kein hässlicher Kerl – ich kann auf Liebe, Respekt und Zuneigung hoffen, die sich viele schöne Mädchen wünschen. Doch es ist mir weder ideologisch noch moralisch möglich, mit einer Deutschen zusammen zu sein. Zärtlichkeit lehnen sie nicht ab – im Gegenteil.

August 1945:

Es wurde uns verboten, mit Deutschen zu sprechen. Alles ist nun wieder verboten. Es ist wie im Krieg.

Die umsichtige Berliner Kommandantur – in Erwartung von Ärger – erließ den Befehl: „Während der Feiertage, wenn die Russen trinken und feiern, verschließt alle Türen, damit das Militär nicht in die Häuser eindringt und Unruhe stiftet.“

Der Autor, Leutnant der Roten Armee, Wladimir Gelfand, schrieb sein Tagebuch im Bewusstsein, dass es nicht nur für ihn bestimmt war. Viele Kameraden wussten längst davon – und er las ihnen immer wieder Auszüge vor. Dieses Tagebuch konnte nicht nur seine Erinnerung sein – sondern auch sein Richter.

Ja – nur hier, im Ausland, erkennt man wirklich, wie groß und maßgebend unser Land ist.

Und fast im selben Atemzug denkt der 22-Jährige an etwas ganz anderes:

Die Deutsche hat versprochen, morgen zu kommen. Sie hat heiße Brüste und einen jungen, geschmeidigen Körper. Und ich – mit meinem Hunger nach Zärtlichkeit – werde bald in einem Meer der Liebe oder einem Sumpf der Vulgarität ertrinken.

November 1945:

Die Frau... Was soll man mit ihr tun? Sie ist drei Jahre älter als ich. Und sie hat mich vom ersten Moment an geliebt – so sehr, dass ich es selbst betrunken nicht verschweigen kann. Es ist zwei Uhr nachts. Ich bin zurück in meiner Unterkunft. Was kann meine Jugend dafür, dass Krieg herrschte – dass ich in Deutschland gelandet bin? Und doch – ich kann nicht ohne Liebe. Ich brauche Nähe. Ich brauche Leben. Ich brauche Liebe.

Dezember 1945:

Als Jugendlicher war ich schüchtern, verschlossen, zurückhaltend. Die Mädchen in meiner Schule wandten sich ab, ehe sie mich wirklich kennenlernen konnten. Ich hatte kein Glück in der Liebe. Erst nach dem Krieg lernte ich in Berlin zum ersten Mal eine Frau kennen – und das auch nur, weil sie sich freiwillig dazu bereit erklärte.

Januar 1946:

Berlin hat sich nicht wesentlich verändert. Die Cafés und Restaurants sind voller Menschen, die Straßenbahnen und Busse überfüllt. Auf den Straßen herrscht Leben – aber auch Gedränge, und an den Haltestellen drängen sich Bettler: Erwachsene und Kinder, Arme und ehemals Reiche – alle betteln.

Im Regiment hat sich nichts verändert. Auch die Menschen nicht – dieselben Skandale, dieselbe Verantwortungslosigkeit, dieselben Flüche. Die Tage vergehen im Warten auf den Abend. Die Geschlechtskrankheiten nehmen überhand – weder Zäune noch Wachen halten die Leute davon ab, nach Berlin und Umgebung zu gehen...

Beim Friseur blieb ich vor einem Porträt stehen – ein Mädchen, mit großem Können gemalt. Ich konnte mich nicht davon lösen und wollte es kaufen.

„500 Mark“, sagte der verdammte Deutsche mit seinem verschlagenen Schlangengesicht. Er erzählte mir, das Bild sei von einem Juden gemalt, von einem Juden verkauft worden – und das Mädchen selbst sei ebenfalls Jüdin. Offenbar hatte der alte Gauner erkannt, wer ich war – und versuchte, mit meinen Gefühlen zu spielen.

„Es ist mir egal, wer das Mädchen ist – ich will das Bild“, sagte ich, zog ein halbes Kilo Schweinefleisch hervor und gab es ihm.

„Das reicht nicht!“ – krächzte der Friseur gierig und griff nach den zwei Glühbirnen, die ich noch hatte. Ich gab ihm eine – ich hatte sonst nur noch Brot. Ich war fast am Verhungern. Aber das Mädchen – lebendig, schön – war es wert. Auch nur als Porträt.

Frauen können schön sein, aber man darf sich nicht nach ihnen sehnen und an traurige Dinge denken...

Ich bin völlig ohne Winterkleidung. Ich trage einen deutschen Mantel, eine aus deutschem Stoff genähte Tunika, die ich auf eigene Kosten gekauft habe, alte Stiefel und Sommerhosen – im Winter.

Diebe, Glücksspieler und Trunkenbolde treten vermehrt auf. Glücksspiele haben sich weit verbreitet. Hunderte und Tausende von Mark wechseln die Besitzer, landen auf dem Tisch, verwandeln sich in Wodka, Kölnisch Wasser und Schnaps in den Taschen der Gewinner. Der Verlierer bleibt mit nichts zurück – nur mit dem Traum von einer Revanche. Und verliert weiter – bis er in seiner Unterwäsche dasteht. Gut, wenn seine Hände rein bleiben. Wenn nicht…

Viele Militärpolizisten vermissen Dinge und Geld. Sie stehlen alles, was greifbar ist – auch Kleinigkeiten: Scheren, Bleistifte, Postkarten. Koffer werden aufgebrochen, Schlösser geöffnet. Jede Nacht hört man betrunkenes Geschrei, flackern Karten auf dem Tisch – das Leben geht weiter.

April 1946:

Ein weiterer Vorfall ereignete sich gestern in der Kommandantur im Bezirk Köpenick. Ein betrunkener Unteroffizier, der sich zusammen mit einem Offizier im Zimmer befand, mit dem er getrunken hatte, stürzte aus dem dritten Stock auf den Bürgersteig.

Und bald danach gesteht Gelfand offen, dass er sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen hat. Er beschreibt detailliert den Verlauf der Behandlung.

September 1946:

Ich habe Handschuhe, mehrere Paar Socken, viele Hüte und Mützen in verschiedenen Farben gekauft. Solange es etwas gibt, womit man den Kopf bedecken kann, wird es auch Anzüge geben. Ein Radio ließ sich nicht beschaffen. Jetzt fehlt nur noch eine Schreibmaschine – und Reifen für mein Fahrrad.

Das Leben hat sich mir zugewandt. Deutschland – du bist nicht langweilig. Aber ich verlasse dich mit Freude. Verdorben und leer bist du. Es gibt nichts Überraschendes an dir, nichts Freudiges. Nur das Leben in dir ist leicht, laut, schwatzhaft, sorglos – und billig.

Und Russland? Ich weiß nicht mehr, wie es aussieht. Ich weiß nicht, wie es lebt. Ich weiß nicht, was an ihm heute interessant ist. Ich schätze dieses Land, das mir wie Schokolade erscheint – bereit, es ohne Ende mit meinen gierigen Zähnen zu knabbern, es mit meiner gebrochenen deutschen Zunge zu lecken, es mit meinen von Blut und Tränen gewaschenen Lippen zu küssen.

Ich habe furchtbar viele Dinge. Ich weiß, dass ich alles brauche. Ich weiß, dass ich alles brauchen werde. Aber sie machen mir Mühe. Ich bin besessen von einem einzigen, natürlichen Traum – all das zu tragen: acht kleine, aber schwere Koffer, zwei Säcke und einen Mehlsack, eine Geige und zwei Handtaschen mit allem Nötigen. Das ist viel für einen Mann.

Oktober 1946: Gelfand ist zurück in Dnepropetrowsk. Ein Eintrag erscheint in seinem Tagebuch:

Zu Hause ist es eine Qual. Ständige Skandale und Unruhe. Die Leute sagen, die Monate des Jahres summierten sich: Hunger, Not, Dürre, Tod.

Gelfand studierte Geschichte und Philologie an der Universität, unterrichtete später an einer technischen Schule, schrieb Artikel auf Ukrainisch und Russisch, war zweimal verheiratet und hatte drei Söhne. Die Lebensbedingungen waren hart. Über ein Jahrzehnt lebte die vierköpfige Familie auf nur 10 Quadratmetern. Erst Ende der sechziger Jahre erhielten sie endlich eine eigene Wohnung.

Wladimir Gelfand starb 1983 im Alter von 60 Jahren. Und sein Tagebuch – das wurde tatsächlich berühmt. So, wie er es sich gewünscht hatte. Es wurde zu einem einzigartigen Dokument aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs.

Tatsächlich zeigt sich:
„Die Rätsel der Geschichte müssen wieder einmal von der Nachwelt gelöst werden.“