- Herausgeber : Daniel Fulda, Dagmar Herzog, Stefan-Ludwig Hoffmann
- Sprache : Deutsch
- Verlag : Wallstein; 1. Edition (11. November 2010)
- Taschenbuch : 392 Seiten
- ISBN-10 : 3835302507
- ISBN-13 : 978-3835302501
- Preiß : € 32,00
- Abmessungen : 15 x 3.5 x 22.9 cm
Stefan-Ludwig HOFFMANN (Bochum) ging es darum, mittels der
Lektüre
privater Aufzeichnungen von Deutschen und Besatzern aus den Jahren
1945/46 die „Schwellenerfahrung“ der unmittelbaren
Nachkriegszeit zu historisieren. Auf Seiten der Deutschen entstand so
das Bild einer komplexen Gemengelage von Ängsten und
Hoffnungen.
Die Besatzer auf der anderen Seite setzten hier wie dort Deutsche mit
Nazis gleich und waren zugleich überrascht, wie
selbstverständlich die Deutschen die Niederlage akzeptierten.
Später differenzierten die westlichen Alliierten ihre Sicht
der
Deutschen sehr viel stärker als die russische Seite. Hoffmann
setzte das aus der Erinnerungskultur bekannte Prinzip der
Pluralisierung der Perspektiven indes nicht nur ein, um einen
Erfahrungsraum zu beleuchten, der oft vernachlässigt wird,
sondern
auch und vor allem um besser zu verstehen, woraus und wie die kurz
darauf aufkommenden und schließlich ideologisch
überformten
Interpretationen der Nachkriegszeit entstanden.
Svenja GOLTERMANNs (Bremen) Vortrag behandelte zwar auch die
Erfahrung(en) des Krieges und der Nachkriegszeit, setzte aber
buchstäblich nicht am Anfang sondern am Ende der Kommunikation
darüber an. Die aus den späten vierziger Jahre
stammenden
psychiatrischen Krankenakten von Kriegsheimkehrern, auf denen der
Beitrag basierte, sind nämlich gerade aufgrund der
Unfähigkeit der Betroffenen entstanden, die Kriegserfahrung
überhaupt in – eine für andere
verständliche
– Sprache umzusetzen. Ähnlich wie die
Tagebuchverfasser
versuchten auch die Soldaten, den Bruch von 1945 in ihr Welt- und
Selbstbild zu integrieren, gerieten dabei jedoch permanent an Grenzen,
welche über die oft – und zum Teil noch immer
–
beschworene Belastungsfähigkeit der Familien in der
Nachkriegszeit
hinausgingen.
Der Abendvortrag von Michael GEYER (Chicago) „Die Niederlage
1945
als Erlebnis, Erfahrung und Erinnerung“ kreiste um einen
Aspekt,
der auch in der Diskussion von Hoffmann und Goltermann aufgetaucht war,
nämlich das lange Nachwirken des Krieges in der
Nachkriegszeit.
Den Wunsch, die „Totalität“ des Redens
über den
Krieg von 1945 bis heute zu verstehen, nahm Geyer zum Anlass
für
zwei Ausgangsfragen: "Woher kommt der Zwang zum Reden?" und "Hat dieses
Reden die Gesellschaft demokratisiert?" Seine zentrale These war, dass
die „unheimliche Präsenz“ des Krieges in
den
Köpfen und Körpern ihr Pendant in einer
Erinnerungskultur
gefunden hat, die sich oftmals als „Praxis des
Wegredens“
des Krieges aus der individuellen Persönlichkeit und aus der
kollektiven Identität manifestiere. Diese fast paradox
anmutende
Überlegung, führte Geyer anhand der Beobachtung aus,
dass
eine wesentliche Erfahrungsdimension der Niederlage im Reden
über
den Krieg durchgängig marginalisiert gewesen sei. Gemeint sind
die
kollektiven „Taktiken des Überlebens“ nach
dem
„Gewaltschock“ von 1945, mit denen die Deutschen
den vom
Nationalsozialismus propagierten und umgesetzten Willen zur
Selbstzerstörung unterwandert hätten. Bei diesen
Taktiken
seien allerdings zugleich bestimmte Gruppen (wiederum die Juden und
auch die Deutschen im Exil) aus der so entstandenen neuen
Überlebensgemeinschaft ausgeschlossen worden.
Dirk MOSES (Sydney) lieferte einen pointierten Abschluss dieser
erinnerungskulturell orientierten Sektion. Um zu erklären,
warum
die Debatten westdeuscher Intellektueller über die
Nazi-Vergangenheit lange extrem polarisierend wirkten, schlug er vor,
dieses Phänomen aus anthropologischer und psychologischer
Perspektive zu betrachten. Danach bestehe ein
Identitätsproblem
aufgrund des Verlustes des „basic trust“ in einer
stigmatisierten sozialen Gemeinschaft (was nebenbei einen
überraschenden Anschluss an Eichenberg bot). Seine Hauptthese
lautete, dass die Intellektuellen in der Regel mit dieser Situation
umgingen, indem sie sich entweder als „Nicht-deutsche
Deutsche“ (Non-German Germans) oder als „deutsche
Deutsche“ verstanden. Erstere spalteten das durch die Nazis
‚beschmutzte’ kollektive Selbstbild ab und
projizierten es
auf die „deutschen Deutschen“. Für diese
wiederum
blieb die Nazi-Vergangenheit konsequenterweise immer ein eigentlich
unerträglicher Bestandteil ihrer nationalen
Identität.
Zugleich machte Moses aber deutlich, dass diese prägende
Struktur
sich mit einer neuen Generation ändere, deren grundlegendes
Vertrauen in das nationale Kollektiv innerhalb einer stabilen
Demokratie aufgebaut wurde.
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Die
deutsche Gesellschaft auf dem Weg vom Nationalsozialismus in eine
demokratische Kultur. Geschichts- und literaturwissenschaftliche
Perspektiven.
Die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert bewegt
sich zwischen zwei Extremen: auf der einen Seite der Absturz in Krieg
und Völkermord, auf der anderen die Rückkehr zu Frieden und Demokratie.
Die Forschung hat sich bislang vorwiegend mit dem Weg der Deutschen in
den Nationalsozialismus hinein beschäftigt und nur wenig damit, wie sie
aus dieser Gewaltgeschichte wieder herausgefunden haben. Wie verlief im
Schatten der Teilhabe an Vernichtungskrieg und Völkermord die private
Suche der Deutschen nach Demokratie?
Inhaltsverzeichnis:
Daniel Fulda, Dagmar Herzog, Stefan-Ludwig Hoffmann, Till van Rahden
SPRACHEN DER NIEDERLAGE
Stefan-Ludwig Hoffmann
Besiegte, Besatzer, Beobachter: Das Kriegsende im Tagebuch
Sabine Kyora
Die Gegenwartsliteratur und das Jahr 1945: Walter Kempowskis Texte zur »Stunde Null«
Michael Geyer
Die eingebildete Heimkehr: Im Schatten der Niederlage
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Dagmar Herzog,
geboren 1961, ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der
City University of New York. Sie zählt zu den führenden Expertinnen auf
dem Gebiet der Geschichte der Sexualität und der Holocaust-Forschung.
Für ihre herausragenden wissenschaftlichen Leistungen wurde sie unter
anderem mit dem Distinguished Achievement Award in Holocaust Studies
der Holocaust Educational Foundation ausgezeichnet. Herzog beschäftigt
sich intensiv mit der Verbindung von kulturellen, sozialen und
politischen Dynamiken in der modernen Geschichte. Zu ihren wichtigsten
Publikationen zählen Cold War Freud: Psychoanalysis in an Age of Catastrophe
(2016), in dem sie die Entwicklung der Psychoanalyse im Kontext
politischer und gesellschaftlicher Umbrüche im 20. Jahrhundert
analysiert. In Sexuality in Europe: A Twentieth-Century History
(2011) bietet sie eine umfassende Darstellung der Veränderungen von
Sexualität und Geschlechterverhältnissen in Europa, wobei sie
insbesondere die Wechselwirkungen zwischen individuellen Lebensformen
und gesellschaftlichen Normen beleuchtet. Darüber hinaus hat Herzog mit
Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts
(2005) maßgeblich dazu beigetragen, die politische Dimension von
Sexualität in der deutschen Geschichte herauszuarbeiten und somit ein
differenziertes Verständnis von Macht, Körper und Gesellschaft zu
fördern.
Stefan-Ludwig Hoffmann
leitet den Forschungsbereich »Wandel des Politischen im 20.
Jahrhundert« am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Seine
Forschungsschwerpunkte liegen auf der politischen Kultur, sozialen
Bewegungen und den Transformationsprozessen in Deutschland und Europa
im 20. Jahrhundert. Hoffmann hat sich insbesondere mit den Mechanismen
politischer Partizipation und der Entwicklung bürgerlicher
Gesellschaften auseinandergesetzt. Seine bedeutende Monographie The Politics of Sociability: Freemasonry and German Civil Society 1840-1918
(2007) untersucht die Rolle der Freimaurerei als zivilgesellschaftliche
Organisation und ihre Einflüsse auf das politische und
gesellschaftliche Leben im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Hoffmanns
Arbeiten zeichnen sich durch eine interdisziplinäre Herangehensweise
aus, die politische Geschichte mit sozial- und kulturwissenschaftlichen
Perspektiven verbindet, wodurch ein vertieftes Verständnis der
politischen Transformationen im modernen Europa ermöglicht wird.
Till van Rahden,
geboren 1967, ist Professor für Deutsche und Europäische Studien an der
Université de Montréal. Er ist spezialisiert auf die soziale und
religiöse Geschichte Deutschlands im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit
besonderem Fokus auf interkonfessionelle und interethnische
Beziehungen. Van Rahdens Forschungsarbeit widmet sich der Untersuchung
der jüdischen Gemeinden und deren Interaktionen mit protestantischen
und katholischen Bevölkerungsgruppen in urbanen Zentren, wobei er die
komplexen Dynamiken von Identität, Integration und Ausgrenzung
beleuchtet. Sein Hauptwerk Juden
und andere Breslauer: Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und
Katholiken in einer deutschen Großstadt, 1860-1925
(2000) bietet eine tiefgründige Analyse der gesellschaftlichen
Verhältnisse in der Stadt Breslau und zeigt die facettenreichen
sozialen und kulturellen Wechselbeziehungen in einem
multikonfessionellen Umfeld auf. Van Rahdens Forschung trägt wesentlich
zum Verständnis von Konflikt, Kooperation und sozialer Differenzierung
in der deutschen und mitteleuropäischen Stadtgeschichte bei.
© Wallstein