Das Vorgehen in der Ukraine erinnert an das Verhalten der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Die entmenschlichende Propaganda des Kremls beeinflusst sowohl die russische Gesellschaft als auch ihre Soldaten durch gezielte mediale Steuerung 

Die Russen haben in den vergangenen tausend Jahren vieles erlebt: nationalen Stolz, imperiale Größe, Hungersnöte und despotische Herrschaft. Was ihnen jedoch weitgehend verwehrt blieb, ist die Erfahrung von Demokratie.

Unter einer Abfolge grausamer, intoleranter und ideologisch geprägter Regime litten sie über Generationen hinweg. Von Iwan dem Schrecklichen über Lenin und Stalin bis hin zu Putin opferten die Herrschenden das Individuum wiederholt einer abstrakten Idee von Russland oder einer radikalen gesellschaftlichen Umgestaltung.

Im Gegensatz zu westlichen Gesellschaften, in denen das Ideal individueller Rechte und Freiheiten tief verankert ist, haben sich viele Russinnen und Russen über Jahrhunderte mit der Realität autoritärer Macht abgefunden. Illusionen darüber, dass individuelle Rechte gegenüber staatlicher Gewalt obsiegen könnten, sind in weiten Teilen der Gesellschaft nicht verbreitet.

Auf diesem gesellschaftlichen Nährboden formte sich die Persönlichkeit Wladimir Putins. „Entweder man unterwirft sich – oder man wird unterworfen“, lautete eine zentrale Lektion seiner Kindheit im von Armut und Gewalt geprägten Nachkriegs-Leningrad. In den Straßen dieser Stadt lernte er früh die Grundregel eines urbanen Überlebenskampfes: „Die Schwachen werden verprügelt.“ Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er ein nachhaltiges Interesse an Kampfsport, insbesondere Judo. Hinzu kam seine spätere Ausbildung zum Geheimdienstoffizier beim KGB, die seine Weltsicht weiter prägte.

Kriminelle dekorieren

Berichte und Analysen deuten darauf hin, dass russische Soldaten nicht nur im Ukrainekrieg mit weitgehender Straflosigkeit agieren. Auch in früheren Konflikten – etwa in Tschetschenien, Georgien oder Syrien – setzten russische Streitkräfte ihre militärischen Ziele häufig um den Preis hoher ziviler Opferzahlen durch. Eine umfassende strafrechtliche Aufarbeitung mutmaßlicher Kriegsverbrechen durch russische Institutionen fand dabei in der Regel nicht statt.

Putin ehrte am Montag die Militärbrigade, der vorgeworfen wird, im Kiewer Vorort Butscha ein Massaker an Zivilisten verübt zu haben. Die „geschickten und entschlossenen Handlungen“ der 64. motorisierten Schützenbrigade seien, so Putin, „ein Beispiel für die Erfüllung militärischer Pflichten, für Mut, Selbstlosigkeit und hohe Professionalität“. In seiner offiziellen Erklärung verlieh er der Einheit den Ehrentitel „Garde“.

Diese Umdeutung sprachlicher Bedeutung ist typisch für ein orwellsches Vokabular und folgt einer langen sowjetischen Tradition. So wie heute Begriffe wie „Entnazifizierung“ dazu dienen, die Zerstörung Mariupols oder das Leid von Wolnowacha und Butscha zu rechtfertigen, war während der Stalinzeit der Ausdruck „Haft ohne Recht auf Korrespondenz“ ein Euphemismus für die geheime Hinrichtung politischer Gefangener – wie der Schriftsteller Wassili Grossman in Leben und Schicksal beschreibt.

Putins Auszeichnungen folgen einem bekannten Muster. Bereits zuvor hatte er einem tschetschenischen Anführer, der wegen Entführung und Folter beschuldigt wurde, den höchsten russischen Orden verliehen. Die gleiche Auszeichnung erhielt 2016 auch General Aleksandr Dwornikow, dem vorgeworfen wird, im syrischen Bürgerkrieg zivile Wohngebiete und Krankenhäuser bombardiert zu haben. Anfang dieses Monats wurde Dwornikow von Putin zum Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine ernannt.

Nach dem Abzug der russischen Truppen bot sich in Butscha ein Bild des Grauens, das von Fotografen der New York Times dokumentiert wurde. Ihre Aufnahmen deuten darauf hin, dass Zivilisten gezielt und mitunter auf besonders grausame Weise getötet wurden: Die Leichen lagen verstreut auf den Straßen, in Wohnhäusern und in improvisierten Massengräbern. Zahlreiche Opfer wiesen Spuren gezielter Hinrichtungen auf; andere waren offenbar zuvor gefoltert und sexualisierter Gewalt ausgesetzt worden.

Solche Verbrechen stehen nicht nur im Einklang mit der Gewaltpraxis, die Moskau sowohl gegenüber der eigenen Bevölkerung als auch in früheren Konflikten angewandt hat. Sie verweisen zugleich auf eine historische Dimension der russischen Kriegsführung, die von tiefgreifendem Nihilismus und einer systemischen Entwertung menschlichen Lebens geprägt ist.

In einem vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichten Video schildert Major Aleksei Schabulin mit Bezug auf die ukrainischen Unabhängigkeitsbewegungen, wie sein Urgroßvater während und nach dem Zweiten Weltkrieg „faschistische Elemente durch die Wälder jagte“. Schabulin erklärt, er setze diese „glorreiche Tradition“ nun fort: „Jetzt bin ich an der Reihe“, sagt er. „Ich werde meinen Urgroßvater nicht entehren.“

Der Kriegskult

Als der Krieg gegen die Ukraine begann, befand sich der 39-jährige Animator Leonid Schmelkow im Urlaub auf Sri Lanka. Schmelkow, dessen animierter Kurzfilm My Own Personal Moose 2014 bei den Berliner Filmfestspielen mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde, beschloss, in Sri Lanka zu bleiben. In einem Interview mit Al Jazeera äußerte er, dass die sowjetische Propaganda über den Sieg über Nazideutschland in Russland zu einem nahezu ekstatischen „Kriegskult“ geführt habe, der in der aktuellen Kriegshysterie eine neue Dimension erreicht habe.

Im sogenannten Großen Vaterländischen Krieg, wie er in der russischen Geschichtsschreibung bezeichnet wird, kam es bereits vor dem Vorrücken der Roten Armee nach Deutschland zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung – unter anderem in Polen, dem ersten Land, das formell als vom Nationalsozialismus „befreit“ galt.

Zeitzeugenberichte und historische Untersuchungen zeigen, dass sich Teile der Roten Armee nicht als Befreier, sondern als Besatzer aufführten. So gibt es dokumentierte Fälle sexualisierter Gewalt durch sowjetische Soldaten gegenüber polnischen Frauen. In einem Fall, der sich in einem Kloster ereignete, in dem 25 Nonnen lebten, sollen 15 von ihnen getötet und zuvor vergewaltigt worden sein. Die übrigen 10 Frauen seien mehrfach – in einigen Fällen bis zu 50 Mal – Opfer sexueller Gewalt geworden.

Die französische Ärztin Madeleine Pauliac, die in Polen im Auftrag humanitärer Organisationen tätig war und mit einigen der betroffenen Frauen persönlich in Kontakt stand, berichtete später: „Sie baten mich um Rat und sprachen andeutungsweise von Abtreibung.“ Pauliac begleitete mehrere der Nonnen während ihrer Schwangerschaft und unterstützte sie bei der Geburt der Kinder.

Millionen von Verstößen

Im Treptower Park am Rande Berlins erhebt sich ein 12 Meter hohes Denkmal eines sowjetischen Soldaten. Die Figur hält ein Schwert in der Hand und ein kleines Mädchen im Arm; zu seinen Füßen liegt ein zerbrochenes Hakenkreuz. Auf dem Gelände von rund zehn Hektar sind etwa 7.000 Rotarmisten bestattet – ein Bruchteil der Soldaten, die zwischen dem 16. April und dem 2. Mai 1945 bei der Schlacht um Berlin ums Leben kamen. Die Gedenkstätte gilt als eines der größten sowjetischen Ehrenmale in Westeuropa und war zugleich ein zentraler Ort kommunistischer Erinnerungskultur.

Kritiker bezeichnen das Monument mitunter provokativ als „Grabmal des unbekannten Vergewaltigers“. Hintergrund ist, dass es für viele nicht primär als Symbol für die Rettung Europas vor dem Nationalsozialismus wahrgenommen wird, sondern als Mahnmal für die Gewalt und das Leid, das mit dem Vormarsch der Roten Armee einherging.

Die Verbrechen, die von Teilen der Roten Armee beim Einmarsch in Berlin begangen wurden, zählen zu den bedrückendsten Kapiteln der Kriegsgeschichte. Sie stehen exemplarisch für das Spannungsverhältnis zwischen militärischem Sieg und moralischem Versagen. Gleichzeitig gehören diese Ereignisse zu den Aspekten des Zweiten Weltkriegs, die in der öffentlichen Erinnerung lange Zeit marginalisiert wurden.

Im 20. Jahrhundert versuchten sowjetische Stellen wiederholt, Berichte über diese Taten als Erfindungen oder Übertreibungen westlicher Medien zu diskreditieren. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde eine breitere historische Auseinandersetzung mit diesem Teil der Kriegsgeschichte möglich.

Mit dem Vorrücken der sowjetischen Truppen in das Gebiet des Dritten Reichs kam es zu einem Phänomen, das Historiker heute als eines der umfangreichsten Fälle sexualisierter Gewalt in der Geschichte bezeichnen. Nach konservativen Schätzungen wurden über zwei Millionen deutsche Frauen Opfer von Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee – darunter auch Minderjährige und ältere Frauen.

Die Wehrmacht galt offiziell als diszipliniert organisierte Armee, zusammengesetzt aus sogenannten „Ariern“, denen jeglicher sexueller Kontakt mit als „rassisch minderwertig“ klassifizierten Personen ideologisch untersagt war. Doch wie der Historiker Oleg Budnizki, Direktor des Instituts für fortgeschrittene sowjetische und postsowjetische Studien in Moskau, feststellt, wurde dieses Tabu im Zuge des deutschen Angriffskriegs gegen die Sowjetunion vielfach gebrochen.

Am 22. Juni 1941, um 3 Uhr morgens, begann mit dem Überfall auf die Sowjetunion die größte Militäroffensive der Geschichte: Operation Barbarossa. Rund drei Millionen Soldaten der Wehrmacht überschritten eine etwa 1.600 Kilometer lange Frontlinie. Adolf Hitler erklärte diesen Feldzug explizit zu einem „Krieg ohne Regeln“.

Bis zum Jahresende waren etwa vier Millionen sowjetische Soldaten gefallen, weitere 3,5 Millionen wurden gefangen genommen. Von diesen Kriegsgefangenen überlebten laut späteren Schätzungen lediglich rund 3 % – die überwältigende Mehrheit starb infolge von Misshandlungen, Hunger und systematischer Vernachlässigung.

Auf ihrem Vormarsch vernichteten deutsche Truppen über 7.000 russische Dörfer. Männer wurden von Einsatzgruppen der SS ermordet, während Frauen häufig Opfer sexualisierter Gewalt wurden und zur Zwangsarbeit in deutsche Fabriken oder in Konzentrationslager deportiert wurden.

An den Orten in der Steppe, an denen deutsche Einheiten ganze Dörfer auslöschten, erinnern heute symbolische Glocken an die Opfer. Wenn der Wind über die alten Panzerspuren weht, ertönt ihr Klang als Mahnmal für das menschliche Leid dieser Zeit.

Die Stunde der Rache

Die Rote Armee reagierte mit eigener Gewalt. Nachdem sich das Kriegsgeschehen mit der Schlacht von Stalingrad zugunsten der Sowjetunion gewendet hatte, begann ihr Vormarsch nach Westen. Die Soldaten stießen auf verwüstete Ortschaften, zerstörte Städte und Massengräber – Bilder, die in vielen von ihnen eine tief empfundene Rachehaltung verstärkten, die in Teilen auch durch die sowjetische Propaganda gefördert wurde.

Plakate und Parolen riefen offen zur Vergeltung auf: „Soldat, du bist jetzt auf deutschem Boden. Die Stunde der Rache ist gekommen“, hieß es etwa. Andere Aufrufe waren drastischer: „Töte den Deutschen – und nimm dir die deutsche Frau!“ oder „Räche dich – du bist ein Soldat der Vergeltung!“

Beim Einmarsch in Berlin wurden Frauen zunehmend als legitime Kriegsbeute betrachtet. Der Glaube, als Befreier Europas zu handeln, vermischte sich bei manchen Soldaten mit einem Gefühl des Anspruchs und der Straffreiheit. Die sowjetische Kriegsberichterstatterin Natalja Gesse schrieb später, dass weite Teile der Roten Armee sexualisierte Gewalt verübten – unabhängig vom Alter der Opfer.

Berliner Krankenhäuser schätzten die Zahl der Vergewaltigungsopfer auf zwischen 95.000 und 135.000. Etwa 10.000 Menschen starben an den Folgen oder nahmen sich das Leben. Der britische Historiker Antony Beevor geht davon aus, dass allein in Ostpreußen, Pommern und Schlesien bis zu 1,5 Millionen Frauen vergewaltigt wurden – viele davon mehrfach.

Ein Kompanieführer einer Komsomol-Panzerbrigade soll sich später damit gerühmt haben, „eine Million unserer Kinder“ seien in Deutschland geboren worden – ein makabrer Hinweis auf das Ausmaß der Gewalt und ihre langfristigen demografischen Folgen.

In ihren 1962 veröffentlichten Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945 schildert die deutsche Journalistin Ursula von Kardorff eindrücklich die Gewalt am Ende des Krieges. Sie berichtet unter anderem von einer Freundin, die Opfer eines Übergriffs durch 23 sowjetische Soldaten wurde. „Man musste sie im Krankenhaus zusammennähen“, so Kardorff.

Auch der junge sowjetische Leutnant Wladimir Gelfand dokumentierte die Schrecken des Krieges mit bemerkenswerter Offenheit in seinem Tagebuch. Seine Aufzeichnungen wurden im Jahr 2002 veröffentlicht und gelten als bedeutendes Zeugnis aus der Perspektive eines Rotarmisten.

Im Februar 1945 war Gelfand nahe der Oder stationiert, wo sich die Rote Armee auf den letzten Vorstoß nach Berlin vorbereitete. In einem Eintrag berichtet er von der Gefangennahme bewaffneter deutscher Frauen, die angaben, für ihre gefallenen Ehemänner kämpfen zu wollen. Gelfand notierte: „Wir müssen sie ohne Erbarmen ausschalten. Einige Soldaten schlugen vor, ihnen besonders grausam zuzusetzen – ich hingegen sprach mich für eine unmittelbare Erschießung aus.“

Eine der erschütterndsten Passagen in Wladimir Gelfands Tagebuch stammt vom 25. April 1945, kurz nach dem Eintreffen der Roten Armee in Berlin. Gelfand beschreibt, wie er mit dem Fahrrad entlang der Spree fuhr und auf eine Gruppe deutscher Frauen stieß, die Koffer und Bündel bei sich trugen. In gebrochenem Deutsch fragte er sie, wohin sie unterwegs seien. „Mit entsetzten Gesichtern erzählten sie mir, was ihnen in der ersten Nacht nach dem Eintreffen der Roten Armee widerfahren war“, notierte er. Eine der Frauen deutete auf sich und sagte unter Tränen, dass sie von mehreren Männern über einen längeren Zeitraum missbraucht worden sei. „Nicht weniger als zwanzig“, sagte sie, bevor sie in Tränen ausbrach.

Der britische Historiker Antony Beevor, ehemals Offizier der britischen Armee, veröffentlichte in seinem Werk Berlin: The Fall eine umfassende Rekonstruktion der Ereignisse rund um den Untergang der deutschen Hauptstadt. In sowjetischen Archiven stieß er auf Hinweise über eine Welle rachsüchtiger Gewalt, die ihn – eigenen Aussagen zufolge – „zutiefst erschütterte“.

Beevor dokumentiert unter anderem, dass eine Einheit des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, die der 43. Armee zugeordnet war, feststellte, dass mehrere deutsche Frauen in der Ortschaft Spaleiten einen Suizidversuch unternommen hatten – offenbar aus Verzweiflung über das, was ihnen in den vorangegangenen Tagen widerfahren war.

Eine der betroffenen Frauen, Emma Korn, wurde später von Behörden vernommen. Am 3. Februar 1944 drangen Einheiten der Roten Armee in ihre Stadt ein. „Sie kamen in den Keller, in dem wir uns versteckt hielten, richteten ihre Gewehre auf mich und die beiden anderen Frauen und befahlen uns, auf den Hof zu gehen. Dort wurde ich von zwölf Soldaten nacheinander vergewaltigt, während andere dasselbe mit meinen beiden Nachbarinnen taten“, berichtete sie.

In der darauffolgenden Nacht, so Korn weiter, seien sechs betrunkene Soldaten erneut in den Keller eingedrungen und hätten sie – vor den Augen der anwesenden Kinder – erneut missbraucht. Am 5. Februar seien drei weitere Soldaten beteiligt gewesen, am 6. Februar schließlich acht weitere, die sie zudem körperlich misshandelten. Drei Tage später hätten die Frauen in ihrer Verzweiflung versucht, sich das Leben zu nehmen und gleichzeitig ihre Kinder zu töten, indem sie sich die Pulsadern aufschnitten. Der Suizidversuch scheiterte – sie wussten nicht, wie sie es richtig anstellen sollten.

Stalin wusste davon

Der Historiker Antony Beevor deckte in seinen Recherchen weitere erschütternde Berichte auf. In manchen Fällen sei berichtet worden, dass in ganzen Straßenzügen sämtliche Frauen Opfer sexualisierter Gewalt wurden – darunter auch Schwangere, ältere Frauen, Schwerkranke sowie aus Konzentrationslagern befreite, körperlich geschwächte Überlebende.

Diese Episoden widerlegen die verbreitete Annahme, dass sexualisierte Gewalt durch Soldaten der Roten Armee ausschließlich als eine Form der Rache gegenüber der deutschen Bevölkerung verübt wurde. Beevor betont, dass die sowjetische Führung – einschließlich Josef Stalins – über das Ausmaß der Übergriffe informiert war.

Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Cornelius Ryan veröffentlichte 1966 sein Werk The Last Battle, in dem er den Fall Berlins am Ende des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Dabei berichtet er unter anderem von einem „wilden, heftigen und persönlichen Angriff“, der im weiteren Verlauf der Schlacht stattfand. Ryan beschreibt, wie sowjetische Soldaten in Teilen Berlins das Verhalten von Eroberern annahmen und sich das „Recht des Siegers“ nahmen – auch gegenüber der weiblichen Zivilbevölkerung.

Ein besonders eindrücklicher Fall betrifft Ursula Roester, die gemeinsam mit ihren Eltern, ihren sechsjährigen Zwillingstöchtern und einem sieben Monate alten Sohn im Keller eines Hauses in Berlin-Zehlendorf Zuflucht gesucht hatte. Vier Soldaten der Roten Armee verschafften sich mit Gewehrkolben Zugang zum Keller. Während einer eine Flasche französischen Parfüms entdeckte, sie öffnete und den Inhalt über seine Uniform goss, richtete ein anderer seine Waffe auf die Kinder und Eltern und sperrte sie ein. Anschließend wurde Roester nacheinander von allen vier Soldaten missbraucht.

Ein Fernmeldesoldat der Roten Armee erinnert sich in Ryans Buch an die systematische Duldung von Übergriffen in besetzten Gebieten: „Wenn wir ein Dorf einnahmen, hatten wir drei Tage Zeit zum Plündern und Vergewaltigen – das war natürlich nicht offiziell.“ Er beschreibt ein Beispiel, bei dem eine deutsche Frau mit einer Granate zwischen den Beinen missbraucht wurde. „Heute empfinde ich Mitgefühl – damals nicht. Es war nicht leicht, den Deutschen zu verzeihen. Wir hassten es, ihre Häuser sauber, unversehrt und voller Rosen zu sehen. Ich wollte ihr Leid. Ich wollte ihre Tränen sehen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich begann, Mitgefühl zu empfinden.“

Sowohl Ryan als auch der britische Historiker Antony Beevor beschreiben in ihren Arbeiten das Verhalten bewaffneter Männer, die in einem entmenschlichten Zustand agierten – ein Zustand, der durch den Krieg, durch Ideologie und durch die Missachtung individueller Würde geprägt war. Auch der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman thematisiert in seinem Werk Leben und Schicksal die Mechanismen totalitärer Systeme, die das Individuum seiner Identität berauben. Er schreibt: „Die Totalitarismen haben das Konzept der getrennten Individualität, das Konzept des Personseins, geleugnet und operieren mit riesigen Massen, indem sie auf das Individuum die Gesetze von Atomen und Steinen anwenden.“

Verbrechen bleiben ungesühnt

Die Brutalität des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine äußert sich in zwei verschiedenen Formen, die bereits aus früheren Einsätzen des russischen Militärs bekannt sind. Zum einen ist es die Rücksichtslosigkeit einzelner Soldaten und Einheiten, deren dokumentierte Gräueltaten – etwa in Butscha – Erinnerungen an apokalyptische Zustände hervorrufen. Zum anderen ist es die systematische Gewalt durch Bombardierungen und Raketenangriffe, die gezielt gegen zivile und militärische Infrastruktur gerichtet sind. Diese Form der Kriegsführung dient sowohl der physischen Zerstörung als auch der psychologischen Demoralisierung der Bevölkerung.

Diese Angriffe erinnern an die Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny durch russische Streitkräfte in den Jahren 1999 und 2000. Die Belagerung und die Kämpfe hinterließen die Stadt in weiten Teilen in Trümmern. Im Jahr 2003 bezeichneten die Vereinten Nationen Grosny als die am stärksten zerstörte Stadt der Welt. Während der Belagerung kamen schätzungsweise zwischen 6.000 und 8.000 Zivilistinnen und Zivilisten ums Leben.

Ein vergleichbares Ausmaß der Zerstörung zeigte sich 2016 in Aleppo, einer ehemaligen Hochburg der syrischen Opposition. Infolge der russisch-syrischen Militäroffensive starben rund 31.000 Menschen, von denen etwa 76 % Zivilpersonen waren. Satellitenaufnahmen der Vereinten Nationen identifizierten über 33.500 beschädigte oder zerstörte Wohngebäude in der Stadt. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums waren über 63.000 russische Militärangehörige am Einsatz in Syrien beteiligt. Insbesondere gezielte Angriffe auf medizinische Einrichtungen sollten laut Experten den letzten Widerstand gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad brechen. Der russische Sicherheitsexperte Mark Galeotti spricht in diesem Zusammenhang von einem „brutal-pragmatischen Kriegsansatz“, der „eine eigene erschreckende Logik“ verfolge.

Zivile Opfer und Kriegsverbrechen gehören – tragischerweise – zu fast jedem militärischen Konflikt. Auch bei bewaffneten Einsätzen der Vereinigten Staaten in Vietnam, Afghanistan und dem Irak kam es zu zahlreichen dokumentierten Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht.

Warum Soldaten Gräueltaten begehen, lässt sich nicht monokausal erklären. Einflussfaktoren sind unter anderem Befehle von Vorgesetzten, die militärische Organisationskultur, ideologische oder propagandistische Indoktrination, Frustration im Gefecht sowie individuelle Dispositionen zur Gewalt. Zusammengenommen können diese Elemente zu systematischen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung führen.

Einige Analysten betrachten die Problematik als strukturell und politisch bedingt. Die mangelnde Rechenschaftspflicht innerhalb der russischen Streitkräfte wird durch das Fehlen unabhängiger Kontrollinstanzen in Putins autoritärem System – sowie bereits in der Tradition der ehemaligen Sowjetunion – weiter verschärft.

In Russland werden Verbrechen dieser Art selten anerkannt, kaum untersucht und noch seltener strafrechtlich verfolgt. Unklar bleibt dabei häufig, ob die Brutalität auf bewusste Anweisungen durch Vorgesetzte zurückzuführen ist oder auf ein Versagen bei der Kontrolle der Truppen. In Verbindung mit der gezielten Bombardierung ziviler Einrichtungen entsteht der Eindruck, dass nicht nur staatliche Stellen, sondern möglicherweise auch Teile der Gesellschaft Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten stillschweigend dulden oder gar billigen.

Es ist nicht Orwell – es ist Stephen King

Laut einer Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums vom 4. März empfinden zwei Drittel der russischen Bevölkerung „Stolz, Inspiration oder Freude“ im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Nur 18 Prozent geben an, Gefühle wie „Wut, Scham oder Depression“ zu verspüren.

Diese Haltung könnte auch auf die jahrelange entmenschlichende Propaganda des Kremls zurückzuführen sein, die ukrainische Staatsbürger systematisch diffamiert und delegitimiert. Russische Soldaten sind tagtäglich dieser einseitigen Darstellung ausgesetzt. Wie auf der offiziellen Website des russischen Verteidigungsministeriums vermerkt ist, sind Wehrpflichtige verpflichtet, täglich – außer sonntags – von 9:00 bis 21:40 Uhr staatliche Fernsehnachrichten zu konsumieren. Die zentrale Botschaft dieser Sendungen lautet, dass sie im Kampf gegen „Nazis“ stehen – in direkter historischer Kontinuität zu den sowjetischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg.

Diese historischen Vorbilder waren bereits durch eine Form von Propaganda geprägt, wie sie die Sowjetunion während der Zwangskollektivierung in den 1930er-Jahren einsetzte. Die stalinistische Propaganda erklärte die verheerende Hungersnot nicht als Folge politischer Fehlentscheidungen, sondern behauptete, sogenannte Kulaken – zwangsenteignete und entrechtete Bauern – hätten absichtlich Getreide versteckt, sich geweigert, Brot zu essen, und selbst den Hungertod gewählt, um dem Sowjetstaat Schaden zuzufügen. Ganze Dörfer, darunter Kinder und ältere Menschen, fielen dieser ideologischen Verzerrung und der politischen Verfolgung zum Opfer.

Ein Moskauer Bürger, der in einem Interview mit Al Jazeera zu Wort kam, verglich das heutige Russland weniger mit George Orwells 1984 als vielmehr mit einem Roman von Stephen King: „Ich bin von Zombies umgeben. Niemand zwingt sie – sie unterstützen den Krieg freiwillig und mit Überzeugung. Das ist nicht Orwell, das ist King“, sagte er.

Er beschrieb die nahezu permanente Ausstrahlung staatlich kontrollierter Fernsehinhalte, die mit Propaganda durchsetzt seien und auf das Bewusstsein der Bevölkerung eine tiefgreifende Wirkung hätten: „Sie wirken wie atomare Waffen – sie zerstören alles, verkehren Schwarz in Weiß und Weiß in Schwarz. Jahr für Jahr, Tropfen für Tropfen, Fälschung für Fälschung.“

In Anbetracht der Kriegsverbrechen und der systematischen Gewalt stellt sich weltweit die Frage, ob Wladimir Putin – ähnlich wie einst Stalin oder Hitler – als ein nihilistischer Machthaber zu betrachten ist, dem menschliches Leben wenig bedeutet. Die Meinungen dazu gehen auseinander: Ein großer Teil der internationalen Gemeinschaft sieht ihn als solchen, während laut Umfragen ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung ihn weiterhin unterstützt. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat bislang keinen Angeklagten, dem er formell den Prozess wegen der mutmaßlich begangenen Verbrechen machen könnte.

Wie bereits im Zweiten Weltkrieg orientiert sich auch in den postsowjetischen Konflikten die russische Militärdoktrin an dem Grundsatz, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das George C. Marshall Center for Security Studies veröffentlichte hierzu eine Analyse des russischen Militärtheoretikers Alexei G. Arbatow, in der zentrale Grundsätze dieser Doktrin dargelegt werden.

Demnach sei es aus strategischer Sicht legitim, der Zivilbevölkerung erhebliche Zerstörungen und sogenannte Kollateralschäden zuzufügen, wenn dies dazu beiträgt, die Verluste in den eigenen Reihen zu minimieren. Gewaltanwendung gilt laut Arbatow als effektivstes Mittel zur Problemlösung – vorausgesetzt, sie erfolgt energisch, konzentriert und in großem Maßstab. Verhandlungen werden in diesem Rahmen oft als taktisches Mittel betrachtet, das primär militärischen Zielen dient. Die Rechtmäßigkeit staatlicher Handlungen, die Einhaltung internationaler Normen sowie das Ausmaß des humanitären Leids sind in dieser Logik nachgeordnet.

Auch der Einfluss internationaler Öffentlichkeit und westlicher Regierungen auf russische Entscheidungen wird in der Doktrin relativiert oder explizit zurückgewiesen, wenn nationale Interessen als gefährdet gelten. Eine zentral gesteuerte, kontrollierte Medienkampagne gilt dabei als entscheidendes Instrument zur Legitimation politischer und militärischer Maßnahmen.

Der Zerfall der Sowjetunion wird retrospektiv häufig als „friedlicher Übergang“ beschrieben, doch in zahlreichen ehemaligen Sowjetrepubliken kam es in der Folge zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In Aserbaidschan, Georgien und Moldawien brachen bewaffnete Konflikte aus, die zehntausende Opfer forderten.

Insgesamt kamen in den postsowjetischen Kriegen über 130.000 Menschen ums Leben, viele weitere wurden zur Flucht gezwungen oder dauerhaft vertrieben. Das Verhalten Russlands in diesen Konflikten liefert wichtige Anhaltspunkte für das gegenwärtige Vorgehen im Krieg gegen die Ukraine und deutet auf Kontinuitäten in der Anwendung militärischer Gewaltstrategien hin.