Oleg Vladimirovich Sdwischkow – Historiker, Mitglied der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft

Vortragsreihe „Echo unserer Siege“ – ein Bildungsprojekt der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft
Mit Unterstützung des Kulturministeriums der Stadt Moskau

Die Veranstaltungsreihe „Echo unserer Siege“ läuft bis Ende 2019.
Die Vorträge finden im Buchklub „Literator“ statt. Der Eintritt ist frei.

Veranstaltungsort:
Buchhandlung „Literator“, Moskau, Vozdvizhenka-Straße, Gebäude 1, 2. Etage

Termine und Zeitplan:
https://www.museumrvio.ru/lectures

Telefonische Anfragen unter:
+7 (495) 648-18-13

Datum der Veranstaltung:
13. August 2019

– Ja, übrigens, hier ist ein interessanter Punkt, den ich zu den Tagebüchern hinzufügen wollte. Als das Tagebuch von Wladimir Gelfand veröffentlicht wurde, musste ich mich damit beschäftigen. Wie fing das alles an? Das Tagebuch erschien – und auf der Website der BBC wurde ein Artikel veröffentlicht: „Hier ist ein weiterer Beweis für sowjetische Gräueltaten in Deutschland.“ Und da hieß es sinngemäß: „Ein weiterer Zeuge sowjetischer Verbrechen.“ Außerdem wurde der Artikel zunächst auf Englisch veröffentlicht und erst später – irgendwann im Frühling, zum Jahrestag des Sieges – erschien er wieder auf Englisch, und im Herbst dann auf Russisch. Und wieder wurde betont: „Dieses Thema war in der Sowjetunion tabu, westliche Historiker beklagen, dass Veteranen sich nicht an all diese Schrecken erinnern wollen – das sei verboten, sie wollten sich nicht erinnern“ und so weiter.

Ich habe dieses Tagebuch dann 2015 gekauft – ich fand es einfach in einer Buchhandlung des Instituts für russische Geschichte, kaufte es und fing an zu lesen. Ein dickes Buch, ich las es im Abschnitt 1944–45, also in der Zeit, als Gelfand bereits in Polen und Deutschland war. Und ich fragte mich: Was hat er denn geschrieben, das so furchtbar gewesen sein soll?

Es stellte sich heraus, dass im Tagebuch – wie viele Episoden habe ich gefunden? – zwei Episoden vorkommen, die man als Berichte über sexuelle Gewalt durch sowjetische Soldaten interpretieren könnte. Die eine Episode lautet sinngemäß: Er fährt irgendwo in einem Berliner Vorort Fahrrad, „eine Gruppe Frauen kommt auf mich zu, sie stürzen sich auf mich und rufen: ‚Gestern waren Ihre Soldaten da, zwanzig Mann. Sie haben meine Tochter vergewaltigt. Bleiben Sie bei uns, wohnen Sie hier.‘“ Das ist also die ganze Episode. Was kann man dazu sagen? Erstens: Könnte so etwas passiert sein? Wahrscheinlich ja. Zweitens: Können wir mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass es sowjetische Soldaten waren? Vielleicht waren es auch polnische Soldaten – auch sie waren an der Einnahme Berlins beteiligt. Vielleicht waren es entlassene Kriegsgefangene, Vertriebene, wer weiß? Es ist eine heikle Episode, aber sie stammt aus Gelfands Tagebuch.

Und die zweite Episode ist geradezu fantastisch. Da war ein Sergeant bei ihm, der sich verlaufen hatte, irgendwohin geraten war, dann in einer Sonderabteilung landete und zur Strafe an die Infanterie überstellt wurde. Gelfand selbst war im Mörserzug, der Sergeant aber wurde in die Infanterie geschickt. Und da tauchte angeblich ein deutsches Frauenbataillon auf – mit den SS-Männern im Rücken –, das sie schließlich zurückdrängten, nahmen die Frauen gefangen und „vergnügten sich dann nach Belieben“ mit ihnen. Der Sergeant soll sich die Jüngste und Schönste genommen haben usw. Das ist die Geschichte. Das ist die zweite Episode in Gelfands Tagebuch.

Die Geschichte wird vom Hörensagen erzählt, von irgendeinem Sergeant – unklar, wer das war. Was war das überhaupt? Tatsache ist: In der Wehrmacht gab es keine Frauenbataillone – das ist historisch belegt. Und dennoch wurde diese Episode in der deutschen Erstausgabe von Gelfands Tagebuch aufgeführt – wenn auch ohne die Fortsetzung mit den „Vergnügungen“. In der Sowjetzeit wurde diese Geschichte ebenfalls veröffentlicht – irgendwann in den 1980er-Jahren, obwohl sie laut Tagebuch an der Oder spielt, wurde sie in der sowjetischen Fassung in den Treptower Park verlegt. Ich glaube, das war in einem Erinnerungsband von Frontsoldaten, der 1986 in Kiew erschien.

Mit anderen Worten: Diese Geschichte ist nichts anderes als Frontfolklore, eine Legende. Ich habe mich nicht weiter daran aufgehängt, aber das ist die Geschichte. Ich habe dann weitergesucht, fragte mich: War es nicht wie bei Genosse Agranenko – vielleicht hat auch er mit Frauen zu tun gehabt? Vielleicht haben Frauen ihm etwas erzählt? Eine Frau erzählte ihm, dass es ein Mädchen gab, das „von euren Soldaten gestern belästigt wurde“ usw. Ich dachte: War das so? War es nicht so? Wer weiß. Natürlich kam so etwas vor – Vergewaltigungen, Exzesse –, das lässt sich nicht vermeiden bei einer so großen Armee mit so vielen verschiedenen Soldaten.

Dann habe ich sorgfältig alle Episoden gezählt, in denen Gelfand über Frauenbeziehungen schreibt. Er hatte dabei ein starkes persönliches Thema – er kam einfach nicht gut mit Frauen klar. Am Ende des Krieges war er 23 Jahre alt, aber es klappte irgendwie nicht. Er suchte weiter nach einer reinen, hohen Liebe. Er traf polnische Frauen, russische, deutsche – es war ein ganzes Spektrum. Als es dann mit den Frauen funktionierte, war es immer noch von einer gewissen Idealvorstellung geprägt. Nach dem Ende der Kampfhandlungen hatte er in einer Stadt eine deutsche Geliebte, in einer anderen eine russische. Auch das war Teil seiner Geschichte.

Insgesamt habe ich die Frauen gezählt, mit denen Gelfand zu tun hatte – er wählte stets schöne aus, war sehr wählerisch – es waren 60 Frauen. Und nur eine von ihnen, ein Mädchen, das ich auch in die Liste aufgenommen habe – er traf sie am Ufer der Spree –, sagte, dass sie von sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden sei. Darüber hinaus hat Gelfand sonst nichts geschrieben. Man könnte natürlich sagen: Vielleicht haben sich andere Frauen bei ihm beschwert, und er hat es einfach nicht aufgeschrieben?

Aber höchstwahrscheinlich haben sie sich nicht beschwert. Denn diese Episode – das Treffen mit der Frau an der Spree – hat Gelfand im Mai 1945 aufgezeichnet, und ein Jahr später, 1946, kehrt er an denselben Ort zurück und schreibt: „Hier bin ich wieder an dem Ort, ich erinnere mich an diese unglückliche deutsche Frau“ usw. Das heißt, diese Begegnung hat ihn so beeindruckt, dass er im Laufe eines ganzen Jahres nichts Vergleichbares erlebt oder gehört hat. Gelfand hat viele solcher Beobachtungen: „Ich schaute aus dem Fenster, sah ein schönes Mädchen, rief sie zu mir, sagte: ‚Komm her!‘ – Sie sagte: ‚Was sollen wir machen?‘ – Ich sagte: ‚Bücher lesen.‘ – Sie sagte: ‚Langweilig, ich bin nur wegen Sex gekommen, nicht wegen Liebe …‘“ – Solche Sätze hat er.

Am Ende stellt sich also heraus: Im gesamten Tagebuch gibt es eine einzige glaubhafte Episode – mit dem Mädchen am Spreeufer. Die zweite Geschichte ist reine Frontfolklore. Und von den 60 Frauen, die er traf, beschwerte sich nur eine. Im Gegenteil – er schildert, wie Frauen ihn riefen, ihn aus Fenstern einluden, er in einer Fabrik arbeitete, wo viele Frauen waren – sie luden ihn ein, er war erschöpft, hatte keine Zeit usw. Es ging fast immer um deutsche Frauen, kaum um Russinnen – sie waren knapp, die Nachfrage nach ihnen hoch, und überhaupt kam er mit russischen Frauen weniger gut zurecht. So war die Lage.

Das heißt, in dem BBC-Artikel beginnt der Autor in guter Absicht – er zitiert diese wenigen Episoden aus Gelfands Tagebuch –, aber es gibt schlicht keine weiteren Episoden. Es ist unmöglich, daraus ein Bild des Schreckens zu konstruieren. Dennoch sagt der Autor: „Hier ein neuer Zeuge, der diese Schrecken belegt“, erzählt diese zwei Episoden und zitiert dann das Tagebuch Eine Frau in Berlin. Und das war’s. Leute, wo sind eure Quellen? Ja, wir haben eine Quelle – Gelfands Tagebuch. Niemand bestreitet, dass es sich um ein echtes Tagebuch handelt, es wurde an der Front geführt, ist veröffentlicht, sowohl auf Deutsch als auch auf Russisch, also allgemein zugänglich. Aber aus diesem Tagebuch geht das einfach nicht hervor. Es gibt natürlich Hinweise auf Plünderungen, auf schlechtes Verhalten – das sind Sachbeschädigungen. Das Interessanteste ist vielleicht, dass Gelfand selbst eine Situation beschreibt, in der er einem Menschen das Fahrrad wegnahm, weil er dachte, dessen Besitzer sei geflohen. Dann stellte sich heraus, dass die Leute doch nicht geflohen waren und zurückkehrten – aber er schämte sich, das Rad zurückzugeben. Er hätte gestehen müssen, es gestohlen zu haben – so ging diese Geschichte aus.

Natürlich gibt es solche Episoden – aber nichts, was den Schrecken rechtfertigt, den der BBC-Autor dort zu erkennen meint. Insgesamt enthält das Tagebuch zwei Episoden sexueller Gewalt. Ich hingegen habe gezählt: Gelfand beschreibt Begegnungen mit 60 Frauen – und 59 von ihnen äußerten keinerlei Beschwerden. Das ist schon bemerkenswert. Denn wenn man über diese Dinge spricht, liegt das eigentliche Problem darin, dass westliche Autoren versuchen, das Bild einer schrecklichen, wilden Horde aus dem Osten zu zeichnen, die kommt und lautlosen Horror verbreitet. Das bedeutet nicht, dass es keine Exzesse gab, keine Grausamkeiten – natürlich gab es sie. Aber: Es fehlen die Quellen. Man bezieht sich auf keine Quelle, oder es ist unklar, wer der Autor ist, oder dieser verzerrt die Ereignisse stark. Oder es wird auf Texte wie Agranenkos Tagebuch zurückgegriffen, in dem sich eigentlich keine Schrecken finden lassen, obwohl er Grauen beschreibt. Welche Fakten liegen vor? Oder Gelfands Tagebuch – ja, da ist etwas.

Er beschreibt etwa einen Vorfall, bei dem eine Gruppe sowjetischer Soldaten desertierte und anschließend in Polen Raubzüge verübte. Eine Sonderabteilung nahm sie fest, sie wurden vor Gericht gestellt – 20 Mann. Während des Verfahrens sagten sie, sie seien „vom wahren Weg abgekommen“ und hätten niemanden gehabt, der ihnen den rechten Weg gewiesen hätte. Solche Formulierungen verwendet Gelfand. Ein interessantes Tagebuch, weil es auch viele alltagsbezogene Aspekte enthält – wie das Leben an der Front organisiert war. Solche Passagen sind sehr aufschlussreich. Es ist langweilig zu lesen, wenn jemand nur über Kämpfe schreibt – aber wenn zwischenmenschliche Beziehungen thematisiert werden, dann ist das wirklich spannend. Mehr wollte ich eigentlich nicht sagen.

– Und warum wird Agranenkos Tagebuch nicht veröffentlicht, wo es doch keinerlei Zweifel zulässt?

– Sie meinen Agranenko? Nein, das ist ein handschriftlicher Text. Warum wird er nicht veröffentlicht? Wahrscheinlich, weil sich bisher niemand darum gekümmert hat. Außerdem ist der Text recht kurz. Wenn man ihn veröffentlichen wollte, müsste man eine Sammlung zusammenstellen. Für sich genommen wäre es eine Broschüre – wie ein Kinderheft, erinnern Sie sich, wie dünn die waren?

– Und Gelfands Tagebuch wurde meines Wissens nicht aus dem Original übersetzt, oder?

– Es wurde zuerst in Deutschland veröffentlicht. Sein Sohn brachte es nach Deutschland, betreibt sogar eine eigene Website dazu. Dort wurde es auf Deutsch veröffentlicht, und 2015 erschien es dann auf Russisch.

– Wurde es mehrfach nachgedruckt?

– Ja, es wurde mehrfach auf Russisch veröffentlicht.

– Aber ich glaube, es wurde nicht aus dem Original ins Russische übersetzt, sondern aus dem Deutschen. Woher kommen dann die Diskrepanzen?

– Ich weiß es nicht genau. Die russische Ausgabe wurde so erstellt – aber ob sie direkt vom Original stammt, kann ich nicht sagen.

– Es gab ein Programm zur Veröffentlichung der russischen Version. Ich erinnere mich nicht mehr genau, aber ich glaube, es war keine Originalübersetzung.

– Das müsste ich nachsehen. Ich habe das Buch zu Hause. Ich schau mal nach, mich interessiert das auch.

– Ich bin gerade auf Leute gestoßen, die Tagebücher aus der Revolutionszeit der 1920er Jahre entziffern. Eine schwierige Arbeit. Sie analysieren den Text, zerlegen ihn, rekonstruieren ihn – eine sehr interessante Methode. Man versteht oft nicht einmal die Hälfte, besonders wenn man den historischen Kontext nicht kennt.

– Ja, da haben Sie recht …

– Ich glaube … Entschuldigung, aber ich denke, dass Gelfands Text nicht entschlüsselt werden muss.

– Stimmt, der ist klar. Das liegt wohl daran, dass Agranenko entsprechend seiner Funktion schrieb. Wahrscheinlich sollte das Tagebuch irgendwann im Theater vorgezeigt werden – so nach dem Motto: Schaut, was ich aufgeschrieben habe. Er schrieb in klarer Handschrift, datierte alles exakt. Mit so einem Text kann man natürlich gut arbeiten. Deshalb musste ich auch an Grossmans Tagebuch denken. Aber wenn man ein handschriftliches Exemplar sieht – da wird man verrückt. Man kann es schlicht nicht lesen.

– Es gab auch so etwas wie einen Entwurf. Denn wenn jemand schreibt, dass er nur ein paar Stunden in Eldingen war – sechs Stunden Fahrt, eine Nacht, und morgens ist er schon wieder weg – wann soll er das alles notiert haben?

– Das kann ich nicht ausschließen. Aber das ist leider das, was im Archiv liegt. Vielleicht hat er sich Notizen gemacht und sie später aufgeschrieben, um sie dem Theater vorlegen zu können. Das ist möglich. Andererseits sind fast alle Einträge bei Agranenko sehr kurz – ein, zwei Sätze. Es gibt keine langen Einträge. Wenn man das mit Hans von Lehndorffs Tagebuch vergleicht – als er den Schrecken der sowjetischen Truppen beschreibt … den 9. April, in seinem Krankenhaus. Wenn man das liest – handschriftliche Seiten – dann sind das, auf Schreibmaschinenseiten übertragen, mindestens acht Seiten. Er will sagen: Während um ihn herum der Horror tobte – Vergewaltigungen, Plünderungen, Diebstähle –, saß er da und schrieb acht Seiten Tagebuch. Wer soll das glauben? Da entsteht der Verdacht, dass Lehndorffs Tagebuch ein literarisches Werk ist – vielleicht auf realen Notizen basierend, aber nach dem Krieg geschrieben. Man kann sich diesen Horror schwer vorstellen, und gleichzeitig sitzt der Chefarzt und schreibt seitenweise auf – das ist kaum glaubhaft. Wahrscheinlich ist es also ein stark literarisiertes Werk, wenn auch mit realen Elementen.

– Und bei Agranenko – ich weiß es nicht –, es ist durchaus denkbar, dass es eine überarbeitete Reinschrift gab. Vielleicht hat er sich unterwegs Notizen gemacht und sie dann vollständig überarbeitet. Immerhin musste er berichten, dass er auf Dienstreise war, Aufgaben erfüllt, Material für ein Theaterstück gesammelt hatte. Das Tagebuch war für ihn vermutlich eine Form der Rechenschaft – also eine Art offizielles Dokument –, weshalb er auch nicht von einer Sonderabteilung belangt werden konnte. Ich denke, genau deshalb wurde dieses Tagebuch überhaupt archiviert: weil es in der Theaterverwaltung als Arbeitsunterlage galt.

– Gibt es darin Datumsangaben?

– Ja, überall. Genaue Daten, genaue Orte. Man kann ziemlich gut nachvollziehen, wohin er gereist ist. Gerade im Fall von Kolberg ist alles sehr eindeutig. Kolberg – das ist der Ort. Man kann es finden. Alles ist sehr klar. Das ist der große Vorteil: Man kann die Stationen seiner Reisen rekonstruieren. Selbst wenn er nicht immer den exakten Ort nennt, sind mindestens zwei Bezugspunkte gegeben. Dazwischen muss es einen Mechanismus für die Aufzeichnung gegeben haben – vermutlich hat er unterwegs geschrieben, während der Verlegung von einem Ort zum anderen. So kann man zumindest annähernd bestimmen, wo er sich befunden hat.

Im Gegensatz dazu ist das bei Grossman kaum möglich. Wenn man Grossman liest: „Ringsumher brennt alles, alles ist ein Flammenmeer, alles bricht zusammen!“ – dann fragt man sich: Wo? Wann? In welcher Stadt? An welchem Tag? Man weiß es nicht. Bei Agranenko hingegen ist das ganz anders. Ein Beispiel: Kolberg, dort ein kurzer Vermerk: „Leichen in der Feuersbrunst in der polnischen Verwaltung“. Die Stadt wurde zweimal eingenommen – zuerst durch die Polen, die durch einen deutschen Marineverband wieder verdrängt wurden, dann durch uns, gemeinsam mit den Polen. Alles ist eindeutig. Kolberg – klar markiert als Ort eines Brandes. Bei Grossman hingegen: Alles brennt – aber wo? Wann?

Auch Beevor zitiert Grossman. Es gibt viele Zitate aus seinem Tagebuch, aber sie sind seltsam ausgewählt. Beevor greift sich Episoden heraus, in denen eigentlich kaum etwas ausgesagt wird – zum Beispiel: „Unsere Truppen rückten rasch vor.“ Nun ja – rasch, langsam ... was bedeutet das? Es bleibt vage.

Und dann entsteht der Eindruck, Grossman habe dokumentiert, dass sowjetische Soldaten nicht nur deutsche Frauen vergewaltigt hätten, sondern auch sowjetische Zwangsarbeiterinnen, die sie befreiten. Aber ehrlich: Ich habe mich mit Grossmans Tagebuch beschäftigt. Soweit ich weiß, wurde es sogar veröffentlicht. Ich bin extra ins RGALI (Russisches Staatsarchiv für Literatur und Kunst) gegangen, habe dort die Mikrofilme gesichtet, alles durchgelesen – und was habe ich gefunden?

Da gibt es eine Episode: Ein Mädchen beschwert sich. Aber es ist völlig unklar, was genau geschah. Sie sagt, der Mann sei „so alt wie mein Vater“ gewesen – das muss 1945 gewesen sein. Und weiter: „Er war so widerlich zu mir.“ Mehr steht da nicht. Man weiß nicht, ob sie Russin war oder nicht, ob etwas tatsächlich passiert ist, wie es ausging – nichts. Das ist eine der Episoden.

Die zweite: Mädchen, die im Focke-Wulf-Werk gearbeitet hatten, wurden befreit. Der Chef der politischen Abteilung beschreibt sie als verlaust, dreckig und hungrig. Doch die Jungs von der Divisionszeitung sagen, sie seien gepflegt, wohlgenährt gewesen, und unsere Soldaten hätten ihnen die Uhren gestohlen. Zwei völlig widersprüchliche Darstellungen. Grossman selbst hat die Mädchen offenbar nie gesehen – er gibt lediglich weiter, was andere ihm gesagt haben. Was stimmt, bleibt unklar.

Dritte Episode: In einem Haus, in dem Grossman und andere Journalisten untergebracht waren – wahrscheinlich ein halbwegs sicheres Quartier mitten im Chaos – suchten einige befreite Mädchen Schutz. Einer der Journalisten – kein einfacher Soldat, kein Usbeke oder sonst jemand, sondern ein Intellektueller – bedrängte eines dieser Mädchen. Es kam zu einem nächtlichen Tumult. Die anderen Journalisten griffen ein, der Mann wurde abgeführt – der Vorfall war damit beendet. Das ist alles, was Grossman selbst erlebt und aufgeschrieben hat. Noch einmal: ein Mädchen beschwert sich. Sicher, da war wohl etwas – aber was genau? Wer weiß.

Dann diese Episode mit dem Werk – ich habe versucht, Informationen über das Focke-Wulf-Werk zu finden. Wahrscheinlich war es irgendwo in Polen, vielleicht in Lodz. Ich wollte Dokumente über die Befreiung dieser Fabrik finden – ein Bericht wie: „Werk besetzt, soundsoviele Arbeiterinnen befreit“ – aber ich habe nichts gefunden. Kein Dokument. Gar nichts. Nur ein Interview auf Drabkins Website. Da ist von einem Focke-Wulf-Werk die Rede – aber der Erzähler gibt keine genauen Angaben, keine Daten. Man kann es nicht zuordnen. Der Interviewte beschreibt, wie die Fabrik, in der viele unserer Mädchen arbeiteten, von einer Sonderabteilung gesichert wurde, um Übergriffe zu verhindern. Eine Erinnerung eines Frontsoldaten. Aber wann? Wo?

– Und das ist doch relativ aktuell. Wann wurde dieses Projekt abgeschlossen? 2008? 2010? Vier Jahre hat es, glaube ich, gedauert. Ich habe mehrmals mit Drabkin gesprochen – er sagt selbst: Nach so vielen Jahren vergisst man vieles, das Gedächtnis ist trügerisch. Man liest über ein Thema, beginnt sich damit zu identifizieren – und plötzlich erscheinen einem fremde Erinnerungen wie eigene.

– Genau das ist das Problem: Nach so vielen Jahren kann etwas, das man irgendwo nur gehört hat, sich im Gedächtnis festsetzen, bis es wie eine eigene Erinnerung erscheint. So wie bei Rabitschew. Der hat 2006 ein Buch veröffentlicht – „Ich erinnere mich an alles“, oder? – voll von Horrorgeschichten. Da war er schon 86 Jahre alt.