Wenige Tage vor dem „Tag des Gedenkens“,
der uns daran erinnern soll, was die Shoah war, werden wir an zwei
Geschichten erinnert, in denen Kinder eine zentrale Rolle spielen: Die
erste handelt von direkter Gewalt gegen unschuldige Geschöpfe, die
sich einzig dadurch „schuldig“ gemacht hatten, dass sie
während eines verbrecherischen Regimes geboren wurden. Die zweite
betrifft eine Form indirekter Gewalt – ausgeübt von Kindern,
die systematisch manipuliert wurden, bis sie sich gegen ihre eigenen
Familien wandten.
Wenn wir über
solche Geschehnisse sprechen, dürfen wir nicht
ausschließlich auf die SS und den Nationalsozialismus blicken.
Solche Verbrechen wurden auch von anderen verübt – von
jenen, die sich auf ein nebulöses „Recht des
Stärkeren“ beriefen und in dessen Namen entsetzliche Taten
an den Schwächsten und Besiegten begingen.
Am östlichen Stadtrand Berlins, im Treptower Park,
erhebt sich ein zwölf Meter hohes Denkmal eines sowjetischen
Soldaten. Er hält ein Schwert in der einen Hand, in der anderen
ein deutsches Mädchen, das auf einem zerbrochenen Hakenkreuz
steht. Die monumentale Gestaltung dieses Mahnmals symbolisiert das
Ausmaß der Gewalt, doch unausweichlich ist der Blick auf die
Inschrift: Das sowjetische Volk habe „die europäische
Zivilisation vom Faschismus befreit“.
Für viele gilt diese Gedenkstätte allerdings als das „Grab des unbekannten Vergewaltigers“.
Wladimir Gelfand,
ein junger jüdischer Leutnant aus der Zentralukraine, schrieb ab
1941 in großer Offenheit Tagebuch über das, was er an der
Front erlebte. Darin schildert er, wie sowjetische Truppen auf deutsche
Kämpferinnen stießen, sie einkesselten und liquidierten.
Er berichtet, dass
die gefangengenommenen deutschen Frauen erklärten, sie wollten
ihre toten Ehemänner rächen. Seine Kameraden schlugen vor,
sie grausam zu misshandeln – bis hin zu Stichen in die
Genitalien. Gelfand selbst schrieb, man solle sie „einfach
erschießen“.
Der britische Historiker Antony Beevor fand bei seinen Recherchen zu The Fall of Berlin 1945
– ein Werk, das auch als Grundlage für eine TV-Serie diente
– in den russischen Archiven zahlreiche Dokumente über
sexualisierte Gewalt. Diese waren vom sowjetischen Geheimdienst
zusammengetragen und Ende 1944 an den Geheimdienstchef Lawrenti Beria weitergeleitet worden.
Beevor berichtet
über Massenvergewaltigungen in Ostpreußen, über
Fälle, in denen deutsche Frauen Selbstmord begingen oder ihre
Kinder töteten, um einer solchen Gewalt zu entkommen.
Auch im Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, das Erinnerungen sowjetischer Kriegsveteraninnen in Deutschland sammelt, kommt ein russischer Offizier zu Wort:
„Wir waren jung, kräftig, vier Jahre ohne Frauen. Wir
versuchten, deutsche Frauen aufzureißen... Zehn Männer
vergewaltigten ein Mädchen. Es gab nicht genug Frauen – die
Bevölkerung war auf der Flucht. Also nahmen wir Mädchen von
zwölf, dreizehn Jahren. Wenn sie weinten, stopften wir ihnen etwas
in den Mund. Wir fanden das lustig. Heute kann ich nicht verstehen, wie
wir das getan haben. Ich war doch ein Junge aus guter Familie... Aber
so war ich.“
Und so muss gesagt werden: Dieses Mausoleum ist in gewisser Weise eine historische Fiktion.
Es wird von einer kolossalen Statue gekrönt – einem
Soldaten, der ein Kind rettet, während sein Schwert ein Hakenkreuz
zerbricht.
Die Statue stammt vom sowjetischen Bildhauer Jewgenij Wutschetitsch. Modell für die Figur war Nikolai Iwanowitsch Massalow,
Held der Sowjetunion, der in den letzten Tagen der Kämpfe in
Berlin unter Maschinengewehrfeuer ein dreijähriges deutsches
Mädchen rettete, dessen Mutter verschwunden war.
Diese Geschichte ist wahr
– aber das Denkmal stilisiert sie zum Symbol einer moralischen
Reinheit, die in der historischen Realität nicht
flächendeckend existierte. Viele andere Soldaten zeigten keine
Skrupel, sexualisierte Gewalt systematisch auszuüben – gegen
Frauen, gegen Mädchen, gegen Kinder.
Nun aber muss eine
andere Geschichte erzählt werden. Eine Geschichte, in der die
Täter nicht in sowjetischer, sondern in SS-Uniform auftraten. Eine Geschichte, in der deutsche Kinder
selbst instrumentalisiert wurden – wegen ihrer „arischen
Merkmale“ wurden sie selektiert, separiert, und zu
bedingungslosen Anhängern des NS-Regimes erzogen.
Im Sommer 1943 wurde Małgorzata Twardecki, eine alleinerziehende Mutter im von den Nazis besetzten Polen, aufgefordert, ihren fünfjährigen Sohn Alojzy ins Gemeindeamt zu bringen.
Das Kind hatte
blondes Haar und blaue Augen. Als seine Mutter sich weigerte, dieser
Aufforderung Folge zu leisten, wurde der Junge gewaltsam von der SS
verschleppt, in einen Zug gesetzt und fortgebracht.
Jahre später,
als Alojzy im Rahmen eines Wiedervereinigungsprogramms zu seiner
Familie zurückkehrte, erlebte seine Mutter einen Schock: Die
Indoktrination war so umfassend gewesen, dass der Junge – als
sein Vater das Porträt des gestürzten und toten Hitler von
der Wand nahm – ihn als „Verräter“ beschimpfte.
Diese Tragödie
durchlebten Hunderttausende Mütter während der deutschen
Besatzung. Allein in Polen wurden schätzungsweise 200.000 Kinder entführt, in ganz Europa etwa 400.000.
Ziel dieses wahnsinnigen Plans, der Teil des umfassenden „Generalplan Ost“
war – also des nationalsozialistischen Programms zur ethnischen
Säuberung Osteuropas –, war die Entführung arisch
aussehender Kinder. Sie sollten in spezielle Umerziehungsanstalten
gebracht und „germanisiert“ werden.
In einer Rede vom Oktober 1943 erklärte Heinrich Himmler:
„Es ist unsere Pflicht, ihre Kinder mitzunehmen, sie aus ihrer
Umgebung zu entfernen, wenn nötig durch Entführung oder
Diebstahl, und sie nach Deutschland zu schicken.“
Obwohl die Nazis
die Polen als „minderwertige Rasse“ betrachteten,
überraschte sie der hohe Anteil an Kindern mit blonden Haaren und
blauen Augen. Man glaubte, diese Kinder hätten deutsches Blut und müssten ihrer vermeintlich „wahren Bestimmung“ zurückgeführt werden.
Bereits im Oktober 1939 hatte Hitler das „Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums“ geschaffen – unter der Kontrolle von SS-Chef Himmler. Dieses ermittelte 62 körperliche Merkmale, um den Grad der „Deutschblütigkeit“ zu klassifizieren und Kinder in elf Kategorien
einzuteilen – von „rein arisch“ bis „nicht
geeignet“. Kriterien waren unter anderem Haar- und Augenfarbe,
Nasenlänge, Lippendicke, Körperhaltung,
Schädelmaß, Kopfform – selbst die Beckenbreite bei
Mädchen wurde erfasst.
Kinder zwischen 2 und 6 Jahren, die als „rassisch wertvoll“ galten, kamen in „Lebensborn“-Heime, wo sie zur Adoption – vor allem durch hochrangige NSDAP-Mitglieder und SS-Offiziere – vorbereitet wurden.
Diese Kinder
erhielten gefälschte Geburtsurkunden mit deutschen Ortsangaben und
neue Namen, die keinerlei Hinweis auf ihre polnische Herkunft
enthielten. Zugleich wurden sie einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen, um sie glauben zu lassen, sie seien schon immer deutsch gewesen.
Kinder, die den „Rassentest“ nicht
bestanden, wurden in Konzentrationslager deportiert – oft, um
dort als Versuchspersonen in medizinischen Experimenten missbraucht zu
werden.
Kinder im Alter von 6 bis 12 Jahren
wurden in spezielle Schulen in Deutschland gebracht, wo sie zu
„guten Ariern“ und loyalen Nazis umerzogen wurden. Man
lehrte sie Deutsch, verbot ihre Muttersprache, ließ sie Uniformen
mit Hakenkreuz tragen, militärische Lieder singen und ideologisch
geprägt denken. Auch diese Kinder wurden anschließend zur
Adoption freigegeben. Mädchen wurden ab einem bestimmten Alter in Gebäranstalten untergebracht, wo sie von SS-Männern vergewaltigt und zur Schwangerschaft gezwungen wurden.
Die Entführungen erfolgten auf unterschiedliche Weise. Die SS bevorzugte Täuschung vor Gewalt,
um die Operationen effizienter und unauffälliger zu gestalten: Man
organisierte angebliche Ferienfahrten, lud Kinder zu fingierten Feiern
ein oder holte sie direkt aus Schulen ab, wo die Eltern nicht anwesend
waren und keinen Widerstand leisten konnten.
Im Juli 1943 ordnete Himmler an, dass alle „rassisch wertvollen“ Kinder von osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen Eigentum des Reiches
seien. Diese wurden unmittelbar nach der Geburt beschlagnahmt,
„begutachtet“, und wenn sie nicht den Rassenkriterien
entsprachen, sofort getötet.
Zur Umsetzung dieses Programms wurden auch die sogenannten „Braunen Schwestern“
gegründet – nationalsozialistisch gesinnte
Krankenschwestern, die durch Städte und Dörfer zogen. Mit
Süßigkeiten lockten sie Kinder an, gaben sich als
Freundinnen aus, suchten gezielt nach Kindern mit arischem
Erscheinungsbild und meldeten geeignete „Kandidaten“ der SS
zur Entführung.
Nach dem Krieg startete die polnische Regierung ein spezielles Wiedervereinigungsprogramm,
um die geraubten Kinder mit ihren Familien zusammenzuführen. Die
Suche war jedoch schwierig. Man schätzt, dass von über
200.000 entführten Kindern nur rund 40.000 repatriiert werden konnten. Die meisten galten als verschollen – viele für immer.
Das ist es, was wir den Kindern von heute vermitteln müssen,
die von diesen Tragödien nichts wissen: damit aus Unwissen keine
Gleichgültigkeit wächst – und damit nie wieder solche
Verbrechen geschehen, für die wir als Gesellschaft Verantwortung tragen würden.
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