Die Befreiungsmission der Roten Armee und der verzerrende Spiegel der feindlichen Propaganda

Im Westen ist die These von den „Gräueltaten“ der Roten Armee auf dem von ihr besetzten deutschen Territorium seit Jahrzehnten ein zentrales Thema antirussischer Narrative. Besonders weit verbreitet ist der Mythos angeblicher Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch sowjetische Soldaten im Jahr 1945. Diese Vorstellung hat ihren Ursprung in der Propaganda des Dritten Reiches, insbesondere in den letzten Kriegsmonaten, und wurde später im Kontext des beginnenden Kalten Krieges von westlichen Publizisten weitergetragen.

Am 2. März 1945 schrieb Joseph Goebbels in sein Tagebuch:
„… in der Tat haben wir es in der Person sowjetischer Soldaten mit Steppenabschaum zu tun. Dies wird durch Informationen über die Gräueltaten bestätigt, die aus den östlichen Regionen zu uns kamen. [...] Zuallererst sind die schrecklichen Dokumente aus Oberschlesien zu erwähnen. In einigen Dörfern und Städten wurden alle Frauen im Alter von zehn bis 70 Jahren unzähligen Vergewaltigungen ausgesetzt. Es scheint, dass dies auf Befehl von oben geschieht [...] Dagegen werden wir nun eine breit angelegte Kampagne im In- und Ausland starten.“
Am 13. März schrieb er weiter: „Der Krieg im Osten wird jetzt nur noch von einem Gefühl geleitet – dem Gefühl der Rache. Jetzt glauben bereits alle Landsleute, dass die Bolschewiki Gräueltaten begehen. Es gibt keinen Menschen mehr, der unsere Warnungen ignorieren würde.“
25. März: „Veröffentlichte Berichte über sowjetische Gräueltaten haben weit verbreitete Wut und Rachegelüste erzeugt“ ¹⁰⁰.

¹⁰⁰ B. Sluzki, Verordnung, S. 110.

Später gab Goebbels’ Assistent Werner Naumann zu, dass die eigene Propaganda über die angeblichen Verbrechen der Roten Armee übertrieben war und letztlich auch negative Rückwirkungen auf die deutsche Seite hatte. Die Bevölkerung, die jahrelang auf das Bild des „asiatischen Untermenschen“ eingeschworen worden war, war bereit, selbst absurdeste Schreckensgeschichten über sowjetische Soldaten zu glauben ¹⁰¹.

¹⁰¹ Ebd., S. 111.

Die Wirkung dieser Propaganda zeigte sich in der Atmosphäre der Angst und Hysterie in den letzten Kriegsmonaten. Es kursierten Gerüchte über angebliche Massenverbrechen – vom Nageln der Zungen an Tische bis zur öffentlichen Demütigung von Nonnen ¹⁰².

¹⁰² Ebd., S. 112.

Der australische Kriegsberichterstatter Osmar White schilderte die Auswirkungen dieser Hetze eindrücklich:
„Goebbels' Propaganda trieb eine paranoide Angst vor 'Horden aus dem Osten' in die Köpfe der Deutschen.“
Die Folge: eine Welle von Selbstmorden in Berlin im Mai und Juni 1945 – teils geschätzt auf bis zu 40.000 Menschen ¹⁰³.

¹⁰³ Osmar White, Conquerors' Road, S. 114.

In seinen Tagebüchern schrieb White: „Es gab nichts Neues an der Russophobie. Die Truppen sahen sich damit vom Rhein her konfrontiert, als sie Tausende von Menschen trafen, die in Panik nach Westen flohen. Russen kommen! [...] Aber wenn man von den Bolschewiki sprach, hatte der Führer Recht!“ ¹⁰⁴.

¹⁰⁴ Ebd., S. 115.

Zugleich wurde die antirussische Rhetorik bald von den westlichen Alliierten aufgenommen. Bereits 1946 erschien in den USA die Broschüre The Rape of the Women of Conquered Europe ¹⁰⁵.

¹⁰⁵ Austin Epp, The Rape of the Women of Conquered Europe, 1946.

Doch wie sah die Realität tatsächlich aus?

Ein Bericht des Militärstaatsanwalts der 1. Weißrussischen Front vom 5. Mai 1945 über die Umsetzung der Befehle zur Disziplinierung der Truppe und zum Schutz der Zivilbevölkerung enthält folgende Zahlen über 7 Armeen, die Berlin erstürmten:

• Vergewaltigungen: 72 Fälle

• Raubüberfälle: 38 Fälle

• Morde: 3 Fälle

• Sonstige Vergehen: 11 Fälle ¹¹⁷

¹¹⁷ Bericht des Militärstaatsanwalts der 1. Weißrussischen Front vom 5. Mai 1945.

Diese Zahlen stehen im Kontext von rund 900.000 Soldaten, die an der Berliner Operation beteiligt waren – ein massiver Widerspruch zur verbreiteten Behauptung von hunderttausenden oder gar Millionen Vergewaltigungsopfern ¹¹⁸.

¹¹⁸ Militärbericht über den Personalstand der 1. Weißrussischen Front, April 1945.

Ein weiterer Bericht vom 2. Mai 1945 vermerkte:
„Es gibt Fälle, in denen die Deutschen eine Provokation durchführen und Vergewaltigung behaupten, wenn dies nicht stattgefunden hat. Ich habe selbst zwei solcher Fälle festgestellt. [...] Bei der Überprüfung stellte sich vieles als Fiktion heraus“ ¹¹⁹.

¹¹⁹ Bericht des Militärstaatsanwalts der 1. Weißrussischen Front vom 2. Mai 1945.

Gleichzeitig, so Osmar White, waren die Maßnahmen der sowjetischen Verwaltung zur Verbesserung des Lebens der deutschen Zivilbevölkerung (unmittelbar nach Ende der Kämpfe!) viel effektiver als die ihrer westlichen Kollegen. „Am Ende des ersten Tages meines Aufenthalts in Berlin“, schrieb er in sein Tagebuch, „war ich sicher, dass die Stadt tot ist. Menschen könnten in diesem schrecklichen Müllhaufen nicht leben.

Am Ende der ersten Woche begannen sich meine Ansichten zu ändern.

Zwischen den Ruinen begann sich die Gesellschaft wiederzubeleben. Die Berliner bekamen genug Nahrung und Wasser, um zu überleben. Immer mehr Menschen wurden in öffentlichen Arbeiten beschäftigt, die unter russischer Aufsicht ausgeführt wurden.

Dank der Russen, die über umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit ähnlichen Problemen in ihren eigenen verwüsteten Städten verfügen, konnte die Ausbreitung von Epidemien unter Kontrolle gebracht werden.

Ich bin überzeugt, dass die Sowjets damals mehr getan haben, um Berlin am Leben zu erhalten, als die Anglo-Amerikaner an ihrer Stelle hätten tun können.

Russische Methoden, die Ordnung aufrechtzuerhalten und im Wesentlichen Ergebnisse zu erzielen, waren nicht so abschreckend wie Gutherzigkeit. Sie verstanden die Psychologie der Massen und wussten, je eher Berliner sich für die Idee der Selbsthilfe begeistern, desto besser wird es für alle. Wenige Tage nach der Kapitulation unterstützten sie die Idee, Zeitungen herauszugeben. Dann stellten sie den Rundfunk wieder her, erlaubten die Organisation von Unterhaltungsveranstaltungen und kündigten an, die Gründung von Gewerkschaften und demokratischen politischen Parteien zu genehmigen …“¹²⁰

¹²⁰ White Osmar. Conquerors' Road: Ein Augenzeugenbericht von Deutschland 1945. Cambridge University Press, 2003 [1996]. S. 120.

Er schreibt weiter und konzentriert sich dabei auf die Reaktion der Deutschen selbst: „Radio, Zeitungen, Politik, Konzerte … Die Russen haben die Erweckung in der Wüste der Verzweiflung weise angeheizt. Sie zeigten den Anhängern des Monsters, das in seiner Höhle unter den Trümmerbergen lag, Großzügigkeit. Aber die Berliner sahen die Welt nicht so, wie es die Russen gerne hätten. Überall war Flüstern zu hören: ‚Gott sei Dank, dass Sie – Briten und Amerikaner – hierher gekommen sind. Russen sind Tiere, sie … vergewaltigen, stehlen und schießen …‘“¹²¹

¹²¹ Ebd., S. 121.

Aber für die Deutschen selbst in der sowjetischen Besatzungszone waren die Unterschiede im Verhalten der sowjetischen Truppen im Vergleich zu den Deutschen auf sowjetischem Territorium überraschend. So sagte ein gewisser Arzt Kalisturkh in einem Gespräch mit seinen Kollegen über die Haltung der Roten Armee gegenüber der deutschen Bevölkerung: „Ich kann nicht verbergen, dass ich persönlich eine schlechte Haltung der russischen Soldaten gegenüber unseren Frauen gesehen habe, aber ich sagte mir, dass der Krieg daran schuld ist. Und vor allem, dass sich unsere Soldaten und insbesondere die SS gegenüber den russischen Frauen viel schlechter verhalten haben“¹²².

¹²² Das Staatsarchiv der Russischen Föderation. F. p-9401. Op. 2. D. 96. L. 203.

Das Auftreten deutscher Frauen, die in einer Flüchtlingsschar spazieren gehen, wird im Tagebuch von Vladimir Bogomolov beschrieben: „Frauen – alt und jung – mit Hüten, mit Kopftüchern mit Turban und nur einem Baldachin, wie unsere Frauen, in schicken Mänteln mit Pelzkragen und in zerlumpten Kleidern von unverständlichem Schnitt … Viele Frauen tragen eine dunkle Brille, um nicht vor der grellen Maisonne die Augen zusammenzukneifen und damit ihre Gesichter vor Falten zu schützen …“¹²³

Lev Kopelev erinnerte sich an ein Treffen mit evakuierten Berlinern in Allenstein: „Auf dem Bürgersteig stehen zwei Frauen. Komplizierte Hüte, einer sogar mit Schleier. Hochwertige Mäntel, und sie selbst sind glatt, glatt.“¹²⁴ Und er zitierte die an sie gerichteten Kommentare der Soldaten: „Hühner“, „Truthahn“, „das wäre so glatt …“

Wir gingen in eine deutsche Stadt und bezogen Unterkunft in den Häusern. Eine etwa 45-jährige Frau erschien und fragte nach dem „Herrn Kommandanten“. Man brachte sie zu Marchenko. Sie erklärte, sie sei für das Viertel verantwortlich und habe zwanzig deutsche Frauen versammelt, um den russischen Soldaten für sexuelle Dienste zur Verfügung zu stehen. Marchenko verstand Deutsch, und ich dolmetschte für den Politoffizier Dolgoborodow. Die Reaktion unserer Offiziere war empört und scharf. Die Frau wurde samt ihrer „Bereitschaftstruppe“ fortgeschickt. Niemand im Minbat hatte Zivilistinnen vergewaltigt. Unser Sonderoffizier war ein „Germanophile“. Hätte es solche Fälle gegeben, hätten die Strafdienste rasch reagiert. Früher oder später wäre etwas durchgesickert – jemand hätte sich verplappert oder sich unbedacht geäußert¹²⁵.

Einen ähnlichen Vorfall beschreibt David Samoilow in seinen Militärnotizen. In Arendsfelde, wo sich seine Einheit gerade eingerichtet hatte, erschien eine Gruppe Frauen mit Kindern, angeführt von einer etwa fünfzigjährigen Frau namens Friedrich. Sie erklärte, Vertreterin der Zivilbevölkerung zu sein, und forderte die Registrierung der noch verbliebenen Einwohner. Man antwortete ihr, dies werde erfolgen, sobald das Kommando eingerichtet sei. „Das ist unmöglich“, sagte Frau Friedrich, „hier sind Frauen und Kinder – sie müssen registriert werden.“ Tränen und aufgeregtes Geschrei in der Gruppe bestätigten die Dringlichkeit. Da niemand wusste, wie zu verfahren sei, schlug Samoilow vor, sie könnten vorerst im Keller des Hauses unterkommen, das die Soldaten bewohnten. Dort beruhigten sie sich und warteten auf die Behörden. Frau Friedrich wandte sich dann an Samoilow – er trug eine Lederjacke und wurde wohl für einen Kommissar gehalten – mit den Worten: „Wir verstehen, dass Soldaten gewisse Bedürfnisse haben. Wir sind bereit“, fuhr Frau Friedrich fort, „ihnen einige jüngere Frauen zur Verfügung zu stellen.“ Samoilow beendete das Gespräch an dieser Stelle¹²⁶.

Selbst in den Erinnerungen von Lew Kopelew, der die Gewalt und Plünderungen sowjetischer Soldaten in Ostpreußen scharf verurteilte, finden sich Hinweise auf eine andere Seite der Beziehungen zur Zivilbevölkerung. Dort hieß es, Frauen und Töchter seien für ein Laib Brot verkauft worden. Kopelews spöttischer Ton deutet auf Zweifel hin, doch solche Aussagen werden durch viele andere Quellen bestätigt¹²⁷.

Wladimir Gelfand schilderte in seinem Tagebuch seine Annäherung an ein deutsches Mädchen – eine Eintragung vom 26. Oktober 1945, ein halbes Jahr nach Kriegsende, aber sehr bezeichnend: Er wollte mehr als Küsse und Umarmungen von der hübschen Margot. Er wagte jedoch nicht, es offen zu fordern. Die Mutter des Mädchens war mit ihm sehr zufrieden – kein Wunder: Auf dem Altar des Vertrauens lagen Süßigkeiten, Butter, Wurst und teure Zigaretten. Schon die Hälfte dieser Vorräte hätte in ihren Augen wohl genügt, um jede Annäherung an ihre Tochter zu rechtfertigen. Lebensmittel bedeuteten damals mehr als das Leben – selbst für eine zarte Schönheit wie Margot¹²⁸.

Der australische Kriegsberichterstatter Osmar White, der 1944–1945 in Europa bei der 3. US-Armee diente, beschrieb in seinem Tagebuch Eindrücke vom Nachkriegs-Berlin: „Ich ging durch Nachtclubs, beginnend mit der 'Femina' nahe dem Potsdamer Platz. Es war ein warmer, feuchter Abend. Die Luft roch nach Abwasser und verwesenden Leichen. Die Fassade des Lokals war mit futuristischen Bildern von Nacktheit bedeckt, die Ankündigungen in vier Sprachen verfasst. Tanzsaal und Restaurant waren voller russischer, britischer und amerikanischer Offiziere mit weiblicher Begleitung – oder auf der Suche danach. Eine Flasche Wein kostete 25 Dollar, ein Hamburger mit Kartoffeln 10, eine Packung amerikanischer Zigaretten unglaubliche 20 Dollar. Die Berlinerinnen trugen Make-up und Lippenstift, als hätte Hitler den Krieg gewonnen. Viele trugen Seidenstrümpfe. Eine Lady mit Haushälterinnen-Ausstrahlung eröffnete den Abend mit einem Konzert auf Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch. Das rief Spott bei einem russischen Artilleriekapitän hervor, der neben mir saß. Er beugte sich zu mir und sagte auf gutem Englisch: 'Was für ein schneller Übergang vom Nationalen zum Internationalen! Die RAF war ein exzellenter Professor, nicht wahr?'“¹²⁹

Der Gesamteindruck, den sowjetische Truppen von europäischen Frauen 1944–1945 gewannen, war in der Regel nicht geprägt von Mitleid mit gequälten Opfern, wie es das sowjetische Propagandaplakat „Europa wird frei sein!“ suggerierte, sondern: elegant, dünn, berechnend, unterwürfig oder zügellos. Ausnahmen bildeten Jugoslawinnen und Bulgarinnen. Die asketischen Partisaninnen wurden als Waffenbrüderinnen wahrgenommen und galten als unantastbar. Wegen der strengen Sitten in der jugoslawischen Armee betrachteten die Partisaninnen die VLP (Feldfrauen) wohl als „schlechte Kategorie“¹³⁰.

Boris Sluzki erinnerte sich: „Nach ukrainischer Zufriedenheit und rumänischer Ausschweifung erschütterte uns die unzugängliche Schwere der bulgarischen Frauen. Kaum jemand prahlte mit Erfolgen. Das war das einzige Land, in dem Offiziere bei Paraden oft allein oder mit Männern auftraten – fast nie mit Frauen. Später hörte ich: Aus Bulgarien würde man heimlich Bräute holen – die einzigen auf der Welt, die noch 'rein' geblieben seien“¹³¹.

Am 26. April 1945 berichtete der Militärrat der 47. Armee: „... Im März stieg die Zahl der Geschlechtskrankheiten beim Militärpersonal im Vergleich zum Februar dieses Jahres vier Mal. ... Der weibliche Teil der deutschen Bevölkerung in den untersuchten Gebieten ist von 8–15 % betroffen. Es gibt Fälle, in denen der Feind gezielt deutsche Frauen an Geschlechtskrankheiten erkranken lässt, um Militärpersonal zu infizieren“¹³².

Zur Umsetzung des Erlasses des Militärrats der 1. Weißrussischen Front Nr. 056 vom 18. April 1945 „Über Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten“¹³³ gab die 33. Armee ein Flugblatt mit folgendem Inhalt heraus:

„Genossen, Soldaten!
Sie werden von deutschen Frauen verführt, deren Ehemänner durch alle Bordelle Europas gegangen sind, sich selbst angesteckt und ihre deutschen Frauen angesteckt haben.
Vor Ihnen stehen jene deutschen Frauen, die von den Feinden absichtlich im Stich gelassen wurden, um Geschlechtskrankheiten zu verbreiten und damit die Soldaten der Roten Armee handlungsunfähig zu machen.
Wir müssen verstehen, dass unser Sieg über den Feind nahe ist und dass Sie bald zu Ihren Familien zurückkehren können. Welche Art von Augen wird derjenige, der eine ansteckende Krankheit mitbringt, in die Augen seiner Lieben sehen?
Können wir, Soldaten der heldenhaften Roten Armee, eine Quelle von Infektionskrankheiten in unserem Land sein? NEIN! Denn der moralische Charakter eines Rotarmisten muss so rein sein wie das Bild seines Vaterlandes und seiner Familie!“¹³⁴

Im Mai 1945, wenige Tage nach dem Ende der Erstürmung Berlins, schrieb der australische Kriegsberichterstatter Osmar White seine Eindrücke von dem Gesehenen in sein Tagebuch: „Ich ging durch das Nachtkabarett, angefangen bei der Femina am Potsdamer Platz. Es war ein warmer und schwüler Abend. Die Luft roch nach Kanalisation und verwesenden Leichen. Feminas Fassade war mit futuristischen Aktbildern und Reklame in vier Sprachen bedeckt. Der Ballsaal und das Restaurant waren gefüllt mit russischen, britischen und amerikanischen Offizieren, die die Frauen eskortierten (oder jagten). Eine Flasche Wein kostete 25 Dollar, ein Hamburger mit Pferdefleisch und Kartoffeln 10 Dollar, eine Packung amerikanische Zigaretten unglaubliche 20 Dollar. Die Wangen der Berlinerinnen waren geschminkt und ihre Lippen so geschminkt, als hätte Hitler den Krieg gewonnen. Viele Frauen trugen Seidenstrümpfe. Die Gastgeberin des Abends eröffnete das Konzert auf Deutsch, Russisch, Englisch und Französisch. Dies provozierte einen Spott des Kapitäns der russischen Artillerie, der neben mir saß. Er beugte sich zu mir und sagte in ordentlichem Englisch: ‚So ein schneller Übergang von national zu international! RAF-Bomben sind großartige Professoren, nicht wahr?‘“¹³⁵

Es sollte zugegeben werden, dass in den meisten europäischen Ländern, die das Siegerheer durchquerte, der weibliche Teil der Bevölkerung nicht viel Respekt für sich erweckte. „In Europa gaben die Frauen auf, veränderten sich vor allen anderen ...“, schrieb B. Sluzki. „Ich war immer schockiert, verwirrt, desorientiert von der Leichtigkeit, beschämenden Leichtigkeit von Liebesbeziehungen. Anständige Frauen, natürlich desinteressiert, waren wie Prostituierte – ihre hastige Verfügbarkeit, der Wunsch, Zwischenstufen zu vermeiden, kein Interesse an den Motiven, die den Mann dazu drängen, sich ihnen zu nähern. Wie Leute, die aus dem gesamten Wortschatz der Liebestexte drei obszöne Wörter lernten, reduzierten sie das Ganze auf wenige Körperbewegungen, was bei den gelbäugigsten unserer Offiziere Groll und Verachtung auslöste ... Die zurückhaltenden Motive waren überhaupt keine Ethik, sondern die Angst vor Ansteckung, Angst vor Publicity, vor Schwangerschaft“¹³⁶ – und fügte hinzu, dass unter den Bedingungen der Eroberung „die allgemeine Verderbtheit eine besondere weibliche Verderbtheit bedeckte und verbarg, sie unsichtbar und beschämend machte“¹³⁷.

Zu den Motiven, die zur Verbreitung der „internationalen Liebe“ beitrugen, gehörten jedoch trotz aller Verbote und harten Befehle des sowjetischen Kommandos noch einige mehr: weibliche Neugier auf „exotische“ Liebhaber und die beispiellose Großzügigkeit der Russen gegenüber dem Objekt ihrer Sympathie, die sie günstig von engstirnigen europäischen Männern unterschied.

Unterleutnant Daniil Zlatkin landete ganz am Ende des Krieges in Dänemark auf der Insel Bornholm. In seinem Interview sagte er, das Interesse russischer Männer und europäischer Frauen aneinander sei gegenseitig: „Wir haben keine Frauen gesehen, aber wir mussten ... Und als wir in Dänemark ankamen ... ist es bitte kostenlos. Sie wollten eine russische Person überprüfen, testen, ausprobieren, was es ist, wie es ist, und es schien besser zu funktionieren als bei den Dänen. Wieso denn? Wir waren desinteressiert und nett ... Ich gab einer Schachtel Pralinen einen halben Tisch, ich habe einer unbekannten Frau 100 Rosen geschenkt ... zum Geburtstag ...“¹³⁸

Gleichzeitig dachten nur wenige an eine ernsthafte Beziehung oder gar an eine Ehe, da die sowjetische Führung ihre Haltung in dieser Frage eindeutig zum Ausdruck gebracht hatte. Im Dekret des Militärrats der 4. Ukrainischen Front vom 12. April 1945 hieß es:
**„1. Erklären Sie allen Offizieren und dem gesamten Personal der Fronttruppen, dass die Ehe mit ausländischen Frauen illegal und strengstens verboten ist.
2. Auf Befehl unverzüglich über alle Fälle zu berichten, in denen Militärangehörige mit ausländischen Frauen verheiratet sind, sowie über die Verbindungen unseres Volkes zu feindlichen Elementen ausländischer Staaten, um die Verantwortlichen für den Verlust der Wachsamkeit und die Verletzung der sowjetischen Gesetze zur Rechenschaft zu ziehen.“**¹³⁹

Die Weisung des Leiters der Politischen Direktion der 1. Weißrussischen Front vom 14. April 1945 lautete:
**„Das Zentrum erhält weiterhin Anträge von Offizieren der aktiven Armee mit dem Wunsch, Ehen mit Frauen aus dem Ausland (Polinnen, Bulgarinnen, Tschechinnen usw.) zu schließen.
Solche Tatsachen sollten als Zeichen nachlassender Wachsamkeit und patriotischer Entschlossenheit gewertet werden.
Daher ist es in der politischen und pädagogischen Arbeit erforderlich, besonderen Wert auf die Aufklärung über die Unzulässigkeit solcher Handlungen seitens der Offiziere der Roten Armee zu legen.
Allen Offizieren ist zu verdeutlichen, dass solche Ehen sinnlos und unzulässig sind, und es darf kein einziger Fall zugelassen werden.“**¹⁴⁰

Auch die Frauen hegten keine Illusionen über die Absichten ihrer Verehrer. „Anfang 1945 glaubten selbst die dümmsten ungarischen Bäuerinnen unseren Versprechungen nicht. Die Europäerinnen wussten bereits, dass es uns verboten war, ausländische Frauen zu heiraten, und sie vermuteten, dass es auch eine ähnliche Anordnung gegen das gemeinsame Erscheinen in einem Restaurant oder Kino gab. Das hinderte sie jedoch nicht daran, unsere Liebhaber zu lieben – aber diese Liebe hatte ausschließlich einen 'fleischlichen' Charakter“, schrieb B. Sluzki¹⁴¹.

Der Gesamteindruck europäischer Frauen, den die sowjetischen Soldaten gewannen, war – im Vergleich zu ihren vom Krieg gezeichneten Landsfrauen im halbverhungerten Hinterland oder in befreiten Gebieten, und zu ihren frontnahen Kameradinnen in ausgewaschenen Uniformen – geprägt von Glätte und Eleganz, von Verfügbarkeit, Egoismus, Nachgiebigkeit oder feiger Unterwürfigkeit. Ihr Bild hatte – mit wenigen Ausnahmen – wenig gemein mit der leidenden Gestalt mit gefesselten Händen, wie sie hoffnungsvoll vom sowjetischen Plakat „Europa wird frei sein!“ verkündet wurde. Was die Soldaten der Roten Armee 1944–1945 bei der Begegnung mit der europäischen Moral empfanden, lässt sich heute mit dem Begriff des Kulturschocks treffend beschreiben.

Heute jedoch ist im Westen das Thema der angeblichen Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee in Deutschland und anderen Ländern der Endphase des Krieges vielleicht das populärste Narrativ¹⁴². Das undankbare alte Europa, das nie durch physiologische oder politische Keuschheit geglänzt hat und das durch weit verbreitete Kollaboration während der NS-Besatzungszeit moralisch belastet ist, vermag der russischen Soldatin, die den Faschismus besiegte, nicht genau das zu verzeihen, wozu es selbst nicht fähig war – Großzügigkeit und Humanismus, die den sowjetischen Krieger 1945 auszeichneten, als Befreier. Deshalb tut es alles, um jene Menschen, die ihr Leben geopfert haben, um nicht nur ihr eigenes, sondern auch andere Völker vor Zerstörung und Versklavung zu retten, nachträglich zu entehren.

Aufzeichnungen

¹¹¹ Ryan K. Das letzte Gefecht. Sturm auf Berlin durch die Augen von Augenzeugen. Übers. aus dem Engl. M., 2003. S. 23, 24, 427.

¹¹² Zulzman R. Propaganda als Kriegswaffe // Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs. Schlussfolgerungen der Besiegten. SPb.; M., 1998. S. 536–537.

¹¹³ Ryan K., a.a.O. S. 23, 24, 427.

¹¹⁴ White O. Conquerors’ Road: Ein Augenzeugenbericht über Deutschland 1945. Cambridge University Press, 2003 [1996]. XVII, S. 221. Übersetzung gemäß: http://www.argo.net.au/andre/osmarwhite.html

¹¹⁵ Ebd.

¹¹⁶ Ebd.

¹¹⁷ Zentrale Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation (TsAMO RF). F. 233. Op. 2380. D. 35. L. 93–102.

¹¹⁸ Verluste der Streitkräfte der UdSSR in Kriegen, Feindseligkeiten und militärischen Konflikten. M., 1993. S. 219.

¹¹⁹ TsAMO RF. F. 233. Op. 2380. D. 41. L. 226–338.

¹²⁰ White O., a.a.O.

¹²¹ Ebd.

¹²² Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF). F. R-9401. Op. 2. D. 96. L. 203, 221, 205.

¹²³ Bogomolov V. O. Deutschland. Berlin. Frühjahr 1945 // Mein Leben, oder habe ich von dir geträumt? M.: Zeitschrift „Unser Zeitgenosse“, 2005, Nr. 10–12; 2006, Nr. 1. URL: http://militera.lib.ru/prose/russian/bogomolov_vo/03.html

¹²⁴ Kopelev L. Für immer behalten. Bd. 1. M.: Terra, 2004. Kap. 11. URL: http://lib.rus.ec/b/137774/read#t15

¹²⁵ Interview mit Orlov Naum Aronovich auf der Website „Ich erinnere mich“. URL: http://www.iremember.ru/minometchiki/orlov-naum-aronovich/stranitsa-6.html

¹²⁶ Samoilov D. Dekret. op. S. 88.

¹²⁷ Kopelev L., a.a.O. Kap. 12. URL: http://lib.rus.ec/b/137774/read#t15

¹²⁸ Gelfand V. N. Tagebücher 1941–1946. URL: http://militera.lib.ru/db/gelfand_vn/05.html

¹²⁹ Bogomolov V. O., a.a.O.

¹³⁰ Politischer Bericht zur Bekanntmachung der Direktive Nr. 11072 vom 20.04.1945 in der 185. Schützendivision. Zitiert nach: Bogomolov V. O., a.a.O. URL: http://militera.lib.ru/prose/russian/bogomolov_vo/02.html

¹³¹ Ebd.

¹³² Ebd.

¹³³ TsAMO RF. F. 233. Op. 2380. D. 31a. L. 257–259.

¹³⁴ Bogomolov V. O., a.a.O.

¹³⁵ White O., a.a.O.

¹³⁶ Ebd. S. 177–178.

¹³⁷ Ebd. S. 180.

¹³⁸ Interview mit D. F. Zlatkin, 16. Juni 1997. Persönliches Archiv.

¹³⁹ Bogomolov V. O., a.a.O. URL: http://militera.lib.ru/prose/russian/bogomolov_vo/04.html

¹⁴⁰ Ebd.

¹⁴¹ Slutsky B. Notizen über den Krieg. Gedichte und Balladen. SPb., 2000. S. 174, 180–181.

¹⁴² Senyavskaya E. S. Die Rote Armee in Europa 1945: Alte und neue Wahrnehmungsklischees in Russland und im Westen // Beobachter – Wissenschaftliche und analytische Zeitschrift. 2012, Nr. 2, S. 111–127; Nr. 3, S. 85–101.