Rückkehr nach Odessa

In der letzten Phase des Großen Vaterländischen Krieges sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden deutsche Besatzer und ihre Helfer in den ehemals okkupierten Gebieten strafrechtlich verfolgt. Auch in der Ukraine kam es zu Prozessen gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher. Öffentliche Verfahren und Hinrichtungen von Besatzern und Kollaborateuren fanden unter anderem in Charkiw, Mykolajiw, Kiew, Poltawa und Donezk (damals Stalino) statt. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete die Stadt Odessa. In der sogenannten „Perle des Schwarzen Meeres“ wurde die „Abrechnung“ mit den Besatzern bereits im Frühjahr 1944 unmittelbar nach dem Abzug der deutschen Truppen vollzogen – durch spontane Gewaltakte und außergerichtliche Vergeltung.

Odessa stand fast drei Jahre lang unter rumänischer Besatzungsherrschaft. Anfang 1944, als sich die sowjetischen Truppen näherten, übernahmen die Deutschen die direkte Kontrolle über die Stadt. Am 9. April 1944 leitete die 3. Ukrainische Front unter dem Kommando von General Rodion Malinowski einen Angriff auf Odessa ein. Die 304. Infanteriedivision der Wehrmacht zog sich schließlich hinter den Dnjestr zurück.

In der Nacht zum 10. April verließen deutsche und rumänische Truppen fluchtartig die Stadt. Mit ihnen versuchten viele Kollaborateure zu fliehen, doch nicht allen gelang die Evakuierung. Bei Einmarsch der Roten Armee wurde Odessa für einen ganzen Tag vollständig abgeriegelt – niemand durfte die Stadt verlassen. Bis zur Ankunft der NKWD-Einheiten übernahmen die Bewohner selbst die Initiative: Sie nahmen Verdächtige fest und übten in zahlreichen Fällen eigenmächtig Vergeltung. In Gennadi Weretelnikows Roman Die Schwäne fliegen heißt es dazu:

„Es stellte sich heraus, dass die Bürger während der Blockade alle Verräter des Vaterlandes gefasst und eine Lynchjustiz organisiert hatten.“

Gründe für Vergeltung

Die Gründe für die Racheakte waren vielfältig. Odessa hatte unter der Besatzung schwere materielle Schäden erlitten: Museen wurden geplündert, Industrieanlagen zerstört, Bibliotheken und medizinische Einrichtungen ausgeraubt. Der Hafen war verwüstet, und versenkte Schiffe blockierten die Bucht. Der eigentliche Auslöser für die Vergeltung lag jedoch tiefer – im kollektiven Trauma der Gewalt und des Terrors.

Trotz eines im Vergleich zu anderen besetzten Gebieten formell „gemäßigteren“ Regimes herrschte in Odessa blanker Terror. Besonders betroffen war die jüdische Bevölkerung, die 1941 keine Gelegenheit zur Evakuierung hatte. Eines der schlimmsten Verbrechen des Holocausts auf sowjetischem Gebiet ereignete sich im Lager Bogdanowka, wo etwa 54.000 Menschen ermordet wurden. Die rumänische Geheimpolizei Siguranța – oft als „Gestapo Rumäniens“ bezeichnet – verfolgte Partisanen, Kommunisten und vermeintliche Regimegegner mit brutaler Härte. Allein sie war in den Jahren der Besatzung für etwa 10.000 Todesopfer verantwortlich.

Nach Erinnerungen von Marschall Malinowski kam es am 9. April 1944, unmittelbar vor dem Abzug der Wehrmacht, zu einer Massenerschießung in einer Tongrube am Stadtrand. Unter den etwa 400 Opfern befanden sich zahlreiche Frauen, Kinder und ältere Menschen.

Die Lynchjustiz

Über die genauen Abläufe der Vergeltungsaktionen in Odessa ist wenig dokumentiert – verständlich, da sich solche Akte außerhalb des offiziellen Rechtsrahmens bewegten. Es ist möglich, dass sowjetische Stellen bewusst einen Zeitraum der „gesetzlosen Abrechnung“ tolerierten, um die öffentliche Rache als vorübergehende Form der Vergeltung zu dulden oder gar zu instrumentalisieren.

Eine verbreitete Version, deren Authentizität umstritten ist, behauptet, es seien Hunderte Galgen auf dem zentralen Platz der Stadt errichtet worden, an denen Kollaborateure ohne ordentliches Verfahren gehängt wurden. Konkrete Belege dafür fehlen jedoch. Verlässlichere Informationen liegen in Tagebuchaufzeichnungen des sowjetischen Leutnants Wladimir Gelfand vor.

In einem Eintrag vom 12. April 1944 beschreibt Gelfand eine Szene in der Tiraspolskaja-Straße, wo Bürger sich versammelt hatten, um der öffentlichen Hinrichtung dreier Männer beizuwohnen – zwei Rumänen und ein Russe, die im nahegelegenen Dorf Anatolijewka geplündert und gemordet hatten. Auch wenn die Szene wie ein Lynchakt wirkte, betont Gelfand, dass es eine formelle Verurteilung gegeben habe.

„Einer der Rumänen war tief erschüttert, er konnte sich kaum auf den Beinen halten“, schrieb Gelfand. „Die beiden anderen verrieten keine Regung, ihre Augen blickten gleichgültig in die Menge. Keine Angst, kein Hass, keine Bitte – nichts war in den Gesichtern dieser schaurigen Verbrecher zu lesen.
Ich trat näher und hörte das Urteil. Dann fuhr der Lastwagen vor. Sie stiegen an der Seite auf – und hingen. Der mittlere, der gleichgültige Rumäne, zuckte kurz zusammen, dann war es vorbei. Die beiden anderen bewegten sich überhaupt nicht – sie waren schwächer, und der mittlere war der Einzige, der sich noch quälte.“

Nach der Hinrichtung wurden Schilder über die Körper der Erhängten gehängt, auf denen ihre Vergehen benannt wurden.

Ein weiterer gehängter Rumäne wurde von Wladimir Gelfand in der Nähe des ausgebrannten Bahnhofs von Odessa gesehen. Wie er festhielt, sei der Mann „für die Vergewaltigung und Erschießung von Zivilisten“ bestraft worden.

Spätere Strafverfolgung

Trotz der vielfach kolportierten Version einer massenhaften Lynchjustiz unmittelbar nach der Befreiung Odessas entgingen viele Täter zunächst der unmittelbaren Bestrafung. In der befreiten Stadt leistete die sowjetische Militärspionageabwehr SMERSch umfangreiche Ermittlungsarbeit. Generalmajor Leonid Iwanow, ein Veteran dieses Dienstes, berichtete später, dass in Odessa zahlreiche Kollaborateure und Kriegsverbrecher noch über Monate hinweg identifiziert und festgenommen wurden.

Zu den bekanntesten gerichtlichen Aufarbeitungen gehört der Kischinauer Prozess, der vom 6. bis 13. Dezember 1947 stattfand. Angeklagt waren drei Deutsche und sieben Rumänen, die in Transnistrien schwerste Kriegsverbrechen begangen und an der Ermordung jüdischer Zivilisten in Odessa mitgewirkt hatten. Da in der Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt keine Todesstrafe in Kraft war, erhielten die Angeklagten langjährige Haftstrafen.

Auch im sozialistischen Rumänien wurden einzelne Täter später zur Rechenschaft gezogen. So wurde der Artilleriekommandeur des 2. rumänischen Armeekorps in Odessa, Constantin Trestioreanu, im Mai 1945 wegen seiner Beteiligung an den Massenmorden an jüdischen Einwohnern verurteilt. Er verbrachte insgesamt elf Jahre in Haft und wurde erst 1956 entlassen.

Ein weiteres Untersuchungsfeld waren die sogenannten „Selbstschutz“-Aktivitäten deutschstämmiger Siedler aus den sogenannten Podesta-Kolonien, die während der Besatzung eigenständig bewaffnete Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung durchgeführt hatten. Viele dieser Personen waren nach dem Rückzug der Wehrmacht nach Deutschland geflohen. Einige von ihnen konnten jedoch in den 1950er und 1960er Jahren identifiziert und für ihre Beteiligung an Morden und Repressionen verurteilt werden.